Der ferne Spiegel
wichtige Rolle – vom Trossweib über die Buchautorin bis zur Minnedame. All das erwähnt Barbara Tuchman mit sicherem Blick für farbige Szenen.
Wie ihr Hauptgewährsmann, der große, von Coucy geförderte Chronist Jean Froissart, weiß sie Akteure und Schauplätze filmreif zu überblenden. Hofzeremonien, Verräterei, Papstwahl-Debakel, Diplomatenkünste: Aus der Sicht des weitblickenden Zeitgenossen werden die Finten und Fanale auf dem politischen Parkett, das oft genug ein Schlachtfeld ist, verständlich. Und stets erinnert sich der Leser, dass diese Welt voller Extreme auch ein »ferner Spiegel«
sein könnte für die zerklüftete Gegenwart der Autorin – sei es im Ganzen wohl auch nur durch den vagen Trost, »daß die Menschheit schon Schlimmeres durchlebt hat«.
Keine der unzähligen Informationen in diesem Buch ist erfunden. Barbara Tuchman kennt die Belege und nennt sie: Chroniken und Urkunden, Inschriften und archäologische Funde, aber auch poetische und philosophische Werke hat sie ausgewertet. Gewiss, in vielem ist die Forschung mittlerweile vorangekommen, und die verwinkelte Geistesgeschichte der Epoche kann das Buch nur ein paarmal streifen. Doch als packend erzähltes Gesamtbild bleibt die 700-Seiten-Reportage der lebensklugen Lady aus New York eine große Leistung. »Spannende Lektüre« nach »bester angloamerikanischer Historikertradition« sei das, urteilten die Kritiker beim Erscheinen der deutschen Übersetzung.
Zahllose Nachahmer hat der Bestseller seither gefunden; nicht nur Romanciers wie Umberto Eco, dessen Mönchskrimi »Der Name der Rose« 1980 den Mittelalter-Boom nutzte und zugleich anheizte, auch Film- und Ausstellungsmacher können weiterhin mit großem Interesse für ein Zeitalter rechnen, das zuvor für die meisten pauschal als »finster« galt.
Zugegeben: Viele der Schmöker, Filme und Themenparks, die das fortdauernde Interesse am Mittelalter ausbeuten, setzen auf primitiven Spaß und Horrorkitzel ohne viel Wahrheitsgehalt. Dass etwa vor vier Jahren der US-Lehrer Dan Brown eine längst als trübes Gebräu entlarvte Verschwörungsstory über den Templerorden bloß clever verzapfen musste, um den Erfolgsthriller »Sakrileg« zu fabrizieren, ist ein Warnsignal dafür, wie wenig es manch einem Mittelalter-Vermarkter noch auf historische Fakten ankommt.
Barbara Tuchman, die US-Moralistin mit dem Blick fürs menschliche Detail, kann gegen solch wohlfeile Sensationen geradezu immun machen. Ohne je den Zeigefinger zu heben, erreicht sie mit ihrem einfühlsamen Panorama, wovon selbst große Historiker oft nur träumen konnten: Ein fremdes Zeitalter wenigstens in den Grundlinien so zu schildern, »wie es wirklich gewesen ist« (Ranke). Den Gewinn an Wissen, mitunter sogar an Weisheit, haben ihre Leser – bis heute.
Johannes Saltzwedel
Mit einem Nachwort von Johannes Saltzwedel
Der Pantheon Verlag ist ein Unternehmen der
Verlagsgruppe Random House GmbH.
Erste Auflage
Oktober 2010
Copyright © 2010 by Pantheon Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Copyright © 1978 Barbara Tuchman
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
A Distant Mirror – The Calamitous 14th Century
Alfred A. Knopf Inc., New York 1978
Leicht gekürzte Ausgabe
Nachbearbeitung der Karten: Peter Palm, Berlin
eISBN 978-3-641-05207-2
www.pantheon-verlag.de
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