Der Feuerstein
fliehen aus dem Zelt. Dann tritt er zu mir.
Zwar bin ich noch immer voller Angst, doch ich kann noch denken, und verschiedene Möglichkeiten stürmen in wildem Widerstreit durch meinen Kopf.
Das Kerzenlicht bricht sich auf etwas, das an einem braunen Lederband um seinen Hals hängt. Ein winziger Käfig baumelt in der Mitte seiner Brust, gerade so groß, dass ich ihn in meiner Hand verbergen könnte, mit schwarzen Gittern wie Eisen und einem kleinen Riegel darüber. Etwas Helles glänzt darin.
»Du weiches Ding«, flüstert er, nähert sich, und der kleine Käfig schwingt vor seiner Brust hin und her. »Ich sehe die Intelligenz in deinen Augen. Da ist etwas an deinem Gesicht. Etwas Seltsames.«
Ich höre seine Worte, aber sie ergeben für mich keinen Sinn. Denn nun sehe ich nur noch auf sein Amulett, auf
den schimmernden blauen Stein, der in diesem kleinen Käfig eingeschlossen ist. So etwas habe ich schon einmal gesehen – in Vater Nicandros Arbeitszimmer, aber vor allem in meinem eigenen Nabel.
Es ist ein Feuerstein.
21
I ch bin erschrocken, wie erstarrt, aber nicht über die Hexenkunst des Animagus. Ist dies das Amulett, von dem die Rede war? Das Amulett, das dicke Brandnarben auf den Leibern meines Volkes hinterlassen hat? Aber wenn das stimmt, wie kann Gott es zulassen, dass etwas so Heiliges für einen so scheußlichen Zweck verwendet wird?
Es kann nicht der eigene Feuerstein des Animagus sein, es sei denn, er hätte ihn sich aus dem Nabel gerissen. Wahrscheinlicher ist, dass er ihn auf andere Weise in die Hände bekommen hat. Vater Nicandro hat mir nur drei gegeben, aber seit Gott uns in diese Welt gebracht hat, sind fast zwanzig Jahrhunderte vergangen. Fast zwanzig Träger. Und dann kommt mir der fürchterlichste Gedanke in den Sinn: Ist es denn vielleicht möglich, dass Gott auch im Volk des Feindes Träger erwählt hat?
Der Mann betrachtet mich genau, während mir all diese Gedanken durch den Kopf gehen. Ich hoffe, meine Miene hat nicht zu viel davon preisgegeben.
Er lächelt. Seine Zähne sind gelb und kränklich und stehen in seltsamem Gegensatz zu seinen perfekten Gesichtszügen.
»Wegen dir komme ich zu spät zum Essen«, säuselt er. »Aber keine Sorge. Ich bin ein vernünftig handelnder Mann.« Erst neigt er den Kopf ein wenig zu einer Seite, dann mit einer Drehbewegung zur anderen, und ich fühle mich wie ein kleines Nagetier vor einem Berglöwen. »Du verstehst die heilige Sprache nicht, was? Keine Sorge, keine Sorge. Wenn ich zurückkehre, dann soll die Erde ein wenig von deinem Blut schmecken, und dann werden wir sehen.« Er streicht mir über die Wange, und es gelingt mir kaum, das Erschauern zu unterdrücken, das seine Berührung, kühl und trocken wie Schlangenhaut, in mir auslöst. »Ich werde dir etwas zu essen bringen. Und jetzt sei ein braves Mädchen und rühre dich nicht, während ich weg bin.« Er lacht über seinen eigenen Witz.
Dann lässt er mich allein im Zelt zurück.
Mit wildem Blick sehe ich mich um und frage mich, wie viel Zeit mir bleibt. Vielleicht ist das meine letzte Chance zu fliehen, und ich muss schnell nachdenken. Erst erwäge ich, einfach wegzulaufen, aber zwischen mir und den Bergen sind viel zu viele Inviernos. Am besten wäre es, wenn ich warte, bis der Animagus wiederkommt. Um ihn dann zu töten. Vielleicht könnte ich seinen Feuerstein nehmen und ihn wie eine Waffe vor mir hochhalten, wenn ich aus dem Zelt fliehe. Natürlich habe ich keine Ahnung, wie ich ihn benutzen kann, aber vielleicht könnte ich so etwas Zeit gewinnen. Vielleicht auch nicht. Aber wenigstens würde ich in dem Wissen sterben, dass ich die Welt von einem Hexenmeister Inviernes befreit habe. Hitzedar der Bogenschütze hat einen getötet. Und Humbertos Großvater Damián ebenfalls. Jetzt bin ich an der Reihe.
Ich komme mir albern vor, als ich das Messer aus meinem Stiefel ziehe, umso mehr, als ich dabei spüre, dass mein Schlüpfer unter meinem Gewand noch immer feucht vom Urin ist. Entschlossen schiebe ich diesen Gedanken weg.
Keine Ahnung, ob ich mich noch einmal dazu überwinden kann, auf jemanden einzustechen. Jemanden mit einem Messer töten – das ist so persönlich, eine Intimität, von der ich nie dachte, dass ich sie erleben würde. Und wie meine Bewacher vorhin schon so treffend bemerkt haben, bin ich keine Kriegerin.
Damit mein Vorhaben überhaupt gelingen kann, muss ich ihn überraschen. Ich schiebe das Messer in meine Schärpe, sodass der Griff gegen meinen Rücken
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