Der Feuerstein
zornige Augen.
Einer der Männer wendet sich angeekelt ab und rümpft die Nase. Jetzt rieche ich auch meinen eigenen Urin, scharf und beißend. Kurz schiebt das Gefühl der Erniedrigung die Angst beiseite. Bis einer von ihnen sagt, in der Lengua Classica: »Bringt sie zur Katze.«
Ein etwas kleinerer, kräftiger Mann hält mir einen Dolch an die Kehle, während man mich vorwärtsschubst. Umringt von Inviernos, gehe ich voran, und ich denke an mein eigenes Messer, das in der Ummantelung meines Stiefels steckt. Zum ersten Mal lasse ich die Erinnerung an den Perdito zu, den ich getötet habe, daran, wie die Klinge gegen Knochen schrammte, wie sie zwischen seine Rippen glitt wie eine Nadel in dickes Teppichgewebe. Das Blut, das mein Hemd durchweichte, war so schnell wieder getrocknet. Ob ich noch einmal töten könnte?
»Das Mädchen ist keine Kämpferin«, sagt einer. Da hat er natürlich recht. Dass ich den Perdito tötete, war größtenteils Zufall.
»Wo sind deine Freunde?«, fragt ein anderer.
Fast habe ich schon den Mund geöffnet, um »Welche Freunde?« zu fragen, da erinnere ich mich, dass die meisten Bergbewohner der Lengua Classica gar nicht mächtig sind. Und so erkläre ich in der Plebeya: »Ich verstehe euch nicht.«
Der Schlag kommt so unverhofft, dass ich nicht einmal mehr Zeit habe, mich davor zu fürchten. Meine Lippe platzt und pocht vor Schmerz, als der Mann näher kommt und ich seine Augen wild orangefarben im Fackellicht leuchten sehe. »Ihr Barbaren seid so dreckig«, faucht er. »Besudelt euch mit
dem eigenen Urin. Sprecht eine dreckige Sprache.« Er wendet sich an die anderen. Jetzt haben sich meine Augen an das Licht gewöhnt, und ich sehe fünf Männer, die ungefärbte Lederkleidung mit Pelzbesatz tragen. »Bringt sie den Steilhang hinunter«, befiehlt der Anführer. »Und wenn sie nicht mithalten kann, dann stürzt ihr sie von der Klippe.«
Sie schubsen mich durch die Höhle zum Eingang; hier muss ich mich so hinsetzen, dass meine Beine über die Kante baumeln. In der Dunkelheit kann ich unter mir nicht erkennen, wohin meine Füße treten oder meine Hände greifen könnten, aber der Speer, der mir ins Gesicht gehalten wird, ist mir Inspiration genug. Ich rutsche abwärts und versuche, mich an Gebüsch oder Steinvorsprüngen festzuhalten. Es ist nicht so schwer, wie es mir am Tage vorkam. Nun, da ich meinen Körper ganz an den Untergrund drücke, merke ich auch, dass diese Felswand nicht völlig vertikal ist, auch wenn sie so aussah. Kurz überlege ich, mich einfach fallen zu lassen und außer Reichweite meiner Bewacher zu rutschen. Schön, ich würde riskieren, mir ein Bein oder etwas Schlimmeres zu brechen, aber zumindest würden sie das nicht erwarten. Ein schneller Blick nach unten, und ich überlege es mir wieder anders. Die Lagerfeuer der Armee Inviernes erstrecken sich in die Ferne, soweit das Auge reicht. Unten angekommen würde es kein Entrinnen geben. Also lasse ich mir Zeit – so viel, wie der Speer zulässt, der noch immer auf meine Augen gerichtet ist – und klettere mit viel Vorsicht weiter.
Meine Arme brennen, als wir die Talsohle erreichen, aber ich fühle seltsam viel Energie in mir. Tatsächlich überlege ich kurz, zur Seite zu springen und wegzulaufen, aber ich bin
nicht schnell oder stark genug, um meinen Bewachern zu entkommen. Ich stelle mir vor, wie es sich anfühlen würde, wenn sich ein Speer durch meinen Rücken bohrte. Aber jetzt bin ich noch am Leben, warum auch immer. Als sie mich zu einem großen, weiß gebleichten Zelt führen, wage ich als einziges Zeichen äußeren Widerstands nur noch, den Kopf hochzuhalten.
Viele Inviernos, die an den Feuern sitzen, sehen mit großen, neugierigen Augen auf, als wir vorüberkommen. Eine Frau hat sich über einen Spieß mit Kaninchenfleisch gebeugt, und ihre Haltung lässt den Umriss ihrer Brüste unter der pelzverbrämten Lederweste erkennen. Ich erwidere ihren aufmerksamen Blick, während meine Bewacher mich weiter vorantreiben. Es fällt mir schwer, Männer und Frauen voneinander zu unterscheiden, jedenfalls aus der Entfernung. Sie alle tragen dieselbe Kleidung, haben dasselbe verfilzte Haar und dieselbe blasse Haut.
Eine kleine Messingglocke hängt an der Zeltwand. Einer der Inviernos schüttelt sie.
»Herein«, ertönt es von drinnen, und wieder zieht eine Faust aus Eis meinen Unterleib zusammen. Ich bete um Wärme und Sicherheit, während einer meiner Bewacher die Zelttür beiseitezieht und mich ins Innere
Weitere Kostenlose Bücher