Der Feuerstein
ich trotz des ständigen Schaukelns ein wenig dösen kann. Aber nach einer Weile weichen Wüstenkakteen und Königspalmen goldenen Regenbäumen und gelben Trauertränen. Saatkapseln schlagen in unregelmäßigen Abständen gegen das Dach der Kutsche und halten mich wach. Nachts schlafe ich unruhig mit meinen Kammerzofen in einem großen Zelt.
Der Dschungel ist erfüllt von Lärm. Kreischende Vögel, keckernde Klammeraffen und summende Insekten wetteifern darum, sich Gehör zu verschaffen. Und auch, wenn der Wind nicht durch das Blätterdach dringen kann, um uns auf unserer Reise einen kühlen Hauch zu schicken, können wir ihn hören, wie er über uns in die Zweige fährt. Tatsächlich war ich noch nie an einem lauteren Ort als hier.
Doch am Morgen des vierten Tages verstummt der Dschungel, so plötzlich und gründlich, dass ich den Vorhang beiseiteschiebe und beinahe erwarte, dass Gott uns in eine andere Zeit und an einen anderen Ort versetzt hat. Aber die Mangrovenbäume ragen immer noch über mir auf, undurchdringlich dunkle Pfeiler in dem gefilterten Licht. Und immer
noch winden sich Palmwedel um ihre Stämme, verzweifelt nach Sonnenlicht suchend.
Zwei Kutschen weiter vorn springt Lord Hector mit dem Degen in der Hand vom Dach zu Boden.
Unser Treck ist mit seinen Kutschrädern, den schnaubenden Pferden und klappernden Rüstungen schwerfällig und laut. Dennoch hat der Dschungel auf unseren Lärm noch nie mit einer so ängstlichen Stille reagiert. Ich höre Lady Aneaxi leise murmelnd beten.
Dann ist in großer Entfernung eine Trommel zu hören. Die Richtung, aus der sie kommt, kann ich zunächst nicht klar ausmachen, aber es ist, als täte sich durch das widerhallende Geräusch ein Loch in meiner Brust auf. Die Schläge ertönen erneut, kommen näher.
Die Kutsche bleibt mit einem Ruck stehen.
Nein.
Alejandros Leibwache hat instinktiv gehandelt. Die Männer haben eine Gefahr gespürt und den Treck angehalten, um einen Ring der Verteidigung um uns zu bilden. Das Blätterwerk ragt dicht an unseren Pfad heran; ich könnte meine Hand durchs Fenster strecken und mit den Fingerspitzen die hängenden Palmwedel berühren. Ein unsichtbarer Feind wäre ohne Weiteres in der Lage, mich aufzuspießen.
Vor uns liegt eine kleine Lichtung, eine Stelle, an der sich die Bäume ein wenig vom Wegesrand zurückziehen.
»Lord Hector!«, rufe ich mit klopfendem Herzen. Er sieht mich an, seine Brust hebt sich in einem tiefen Atemzug, als bemühe er sich um Gelassenheit. Aber ich weiß, dass ich in dieser Sache recht habe. Die Belleza Guerra widmet ganze Seiten dem Abwehren eines feindlichen Angriffs. »Wir
müssen die Lichtung erreichen, damit wir sie kommen sehen können!«
Er nickt und ruft einen Befehl, während ein neuerlicher Trommelschlag mein Brustbein erschüttert. Die Pferde schnauben und tänzeln, denn das Geräusch macht auch sie unruhig, aber sie ziehen uns weiter voran, der Lichtung entgegen.
»Aneaxi. Ximena. Wir müssen nach unten, weg von den Fenstern.« Die Kutsche bebt, als sie sich meinen Worten fügen. Wir bilden ein seltsames Dreiergrüppchen, für das der Platz auf dem Boden zwischen den Sitzbänken kaum ausreicht.
»Die Leibwache Seiner Majestät ist die beste auf der ganzen Welt«, haucht Aneaxi. »Wir sind nicht in großer Gefahr.« Doch dabei umklammert ihre Hand die meine so fest, dass es wehtut.
Mit meiner freien Hand taste ich nach dem Umriss der Falltür, bis ich den Riegel finde, der sie verschließt. Der Gedanke, die Kutsche zu verlassen, macht mir Angst, und ich stelle mir vor, wie wir drei auf die Erde stürzen. Ich hoffe, dass Aneaxi recht hat und wir nicht ernsthaft in Gefahr schweben.
Die Trommeln schlagen nun schneller und lauter. Meine Schulter stößt gegen einen Sitz, als die Kutsche heftig schwankt. Ich wage es nicht, aus dem Fenster zu sehen, doch ich hoffe, dass wir die Lichtung erreicht haben. Von draußen sind schnelle Schritte und Lord Hectors gedämpfte Befehle zu hören, dann das metallische Klirren von gezogenem Stahl.
Etwas schlägt schwer gegen die Kutsche. Wieder und wieder, bis es sich anhört wie ein Hagel aus Steinen, der gegen
eine Holzwand prasselt. Ein heftiger Aufprall erschüttert die Kutschwand neben meinem Kopf. Die schimmernde schwarze Spitze eines Pfeils hat sich hindurchgebohrt, eine knappe Handbreit von meiner Nase entfernt. Meine Haut glüht. Es ist zu heiß, zu stickig, man bekommt kaum Luft. Der Feuerstein in meinem Nabel sendet eiskalte Wellen aus, und
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