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Der Feuerstein

Der Feuerstein

Titel: Der Feuerstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rae Carson
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ausgeht. Mag sein, dass er mich noch nicht liebt, aber an diesem Ort des Todes, in diesem Augenblick geteilter Erleichterung, hält er mich zumindest im Arm.
     
    Wir haben fünfzehn Männer durch die Perditos verloren. Außerdem gibt es viele Verletzte, wie Alejandro und Aneaxi, aber Wunden werden heilen.
    Während Aneaxi schläft, richtet Lord Hector ihr Bein und schient es. Ich entferne mich ein paar Schritte, um mir mit breiten, wächsernen Blättern das Blut vom Gesicht zu
wischen und ein wenig zur Ruhe zu kommen. Mein Kleid ist verdreckt und durchweicht, das Blut hat sich schon braun gefärbt und trocknet ein, aber der Großteil meiner Garderobe ist mit der Kutsche verbrannt. Mein Magen knurrt – ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal einen solchen Hunger hatte. Aber ich käme mir albern vor, nach Essen zu fragen, während man sich noch um die Verwundeten kümmert.
    Kurze Zeit später sitze ich auf einem Baumstamm und starre das Blattwerk um mich herum an, als Lord Hector zu mir kommt.
    »Hoheit, wir haben einen Gefangenen.«
    Beim Blick in sein Gesicht fällt mir auf, dass sein Schnurrbart verfilzt und klebrig ist. »Oh?« Ich weiß nicht recht, wieso er mich darüber in Kenntnis setzt.
    »König Alejandro sagte, Ihr solltet entscheiden, wie mit ihm verfahren werden soll.«
    Ich? Mein Herz klopft.
    Vielleicht wollen sie dieses Mädchen, das einmal Königin sein wird, auf die Probe stellen. Oder vielleicht hat Alejandro etwas anderes zu tun. »Der Mann ist ein Mörder«, sage ich, allein um mir eine kurze Denkpause zu verschaffen.
    »Ihr müsst es nur sagen, und ich werde ihn höchstselbst auslöschen.«
    Meine Kehle schnürt sich bei dieser Vorstellung zusammen. Es fühlt sich nicht richtig an, dass ich Herrin über Leben und Tod sein soll.
    Mir wäre es lieber, wenn heute überhaupt niemand gestorben wäre.
    »Kann er sprechen?«

    »Ja.«
    »Dann habe ich noch einige Fragen an ihn.«
    Lord Hector hilft mir auf die Beine. Es liegt eine Spur von Respekt in seinen Augen, die zuvor noch nicht darin zu lesen war, der mich jedoch nur kurz wärmt. Diesen Respekt habe ich viel zu teuer bezahlt.
    Der bemalte Gefangene sitzt inmitten eines Kreises gezogener Degen. Seine Hände sind vor dem Körper gefesselt, die Fußknöchel liegen in Ketten. Mit weit aufgerissenen Augen betrachtet er seine Bewacher und ist sich ganz offensichtlich der Tatsache bewusst, dass ihm jeder von ihnen ohne viel Federlesens seine Klinge ins Herz rammen könnte.
    Er sieht mich kommen, und Hoffnung flammt in seinen Augen auf. Oder Durchtriebenheit. Die gemalten Kreise auf seinem Körper haben etwas Obszönes. Sie sind scheußlich, abstoßend. Aus der Nähe stelle ich fest, dass hohle Knochen in sein langes, verfilztes Haar gebunden sind.
    »Herrin«, sagt er. Seine Stimme ist klar und hell, seltsam unpassend aus dem Mund dieses Wilden.
    Es liegt mir auf der Zunge, seine Anrede zu korrigieren, aber ich möchte im Augenblick noch nicht erkennen lassen, wer ich bin. »Man hat es mir übertragen, über dein Schicksal zu entscheiden«, sage ich. »Gibt es einen Grund, irgendeinen, aus dem ich dich verschonen sollte?« Mir fällt ein wirklicher guter Grund ein, aber zunächst einmal muss ich wissen, ob er mit uns kooperieren will.
    Einen Augenblick schweigt er. Dann: »Ich kann euch helfen.«
    »Wie?«
    »Ich kenne den Dschungel. Ich kenne seine Geheimnisse.
« Seine Augen sind riesengroß wie die eines in die Enge getriebenen Tiers.
    »Wirst du all meine Fragen beantworten? Wahrheitsgemäß? Ohne Einschränkungen?« Lord Hector nickt zustimmend. Er hält meine Vorgehensweise offenbar für Strategie, dabei habe ich einfach nur nicht den Mut, noch einmal jemanden sterben zu sehen.
    »Das werde ich«, sagt der Perdito.
    »Dann werde ich dich verschonen.«
    »Vielen Dank, Herrin.« Er beugt sich vor, greift nach dem Kleiderstoff rund um meine Körpermitte und beugt demütig den Kopf. Es ist die übliche Ehrfurchtsbezeugung eines neuen Vasallen, aber ich merke, dass ich sie scheußlich finde. Viel zu intim, viel zu gefährlich, obwohl sich die vielen Degenspitzen nun auf seinen Hals richten.
    Dann erstarrt er. Seine Finger haben den Feuerstein unter meinem blutverschmierten Kleid gespürt. Ich weiß, was er gefühlt hat. Eine geschliffene Oberfläche, hart wie ein Diamant, aber warm vor Leben. Er weicht zurück.
    »Du!«, flüstert er. Seine Augen sind weit aufgerissen und feucht vor Tränen der Furcht; er atmet stoßweise und

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