Der Feuerstein
»Vergiss nicht, dein Papá wird wahrscheinlich noch an der Stadtmauer gebraucht.« Vermutlich ist das Gegenteil der Fall, aber das muss Rosario nicht wissen.
Doch in diesem Augenblick fliegt die Tür auf, und Alejandro stürmt ins Zimmer, mit geweiteten Augen und rußverschmiertem Gesicht. »Sie haben das Tor niedergebrannt«,
flüstert er. »Nur zwei Angriffe, und dann ging das Holz in Flammen auf.«
»Sind sie auf dem Weg hierher?«, frage ich drängend.
Er schluckt. »Es kann sich nur noch um Minuten handeln. Elisa, was sollen wir nur tun?« Rosario kommt nun hinter mir hervor und schlingt seine Arme um die Beine seines Vaters.
»Wir werden fliehen«, sage ich. »Mara sollte jeden Augenblick mit Proviant zurück sein. Wir werden durch die Abwässerkanäle zum Meer kriechen und müssen hoffen, dass nicht gerade Flut ist und das Wasser zu hoch steht.«
»Aber die Klippen … wir werden einen Teil des Weges klettern müssen, und Rosario kann nicht besonders gut schwimmen.«
»Wir können es schaffen.« Zornig und entschlossen sehe ich ihn an. »Ich jedenfalls werde gehen, und ich nehme den Erben Joya d’Arenas mit mir, damit wenigstens einer von euch beiden überlebt.« Mein Ton ist viel härter, als ich eigentlich beabsichtigt habe, aber ich schlucke mein Schuldgefühl herunter. Cosmé war gelegentlich auch hart zu mir. Mich hat das stärker gemacht.
Und tatsächlich ist es, als hätte ich ihm eine Ohrfeige verpasst. Seine Augen werden klar, und er nickt kurz.
Ximena hat die ganze Zeit über schweigend weiter an meinem Rock genäht, als stünde fest, dass morgen das Leben ganz normal weitergehen wird. Sie sieht von dem Stoff auf, der auf ihrem Schoß liegt. »Jemand muss euch den Rücken frei halten«, sagt sie sanft. »Einer von uns muss hierbleiben.«
Ihr Gesicht ist dunkel und ruhig und wunderschön, und ich weiß sofort, was sie vorhat. »Nein«, flüstere ich. Der Gedanke
ist unerträglich, und ich schüttele den Kopf. »Nein, Ximena.«
»Ich könnte euch ein paar Minuten Zeit verschaffen. Kostbare Zeit. Ich weiß, was zu tun ist. Es ist die einzige Möglichkeit.«
»Ich will nicht auch noch dich verlieren.«
Sie lächelt. »Ich werde euch später wiederfinden.« Aber sie und ich, wir wissen, dass das Unsinn ist. Ximena kann uns ein wenig Zeit verschaffen, aber wenn sie einem Hexenmeister gegenübersteht, wird sie das nicht überleben.
Das kann ich nicht zulassen. Sie hat noch nicht begriffen, wie viel Entschlusskraft seit Neuestem in mir wohnt.
Ich laufe ins Atrium, wo Rosarios Sachen liegen. Er wird feste Schuhe für die Reise brauchen, Kleidung zum Wechseln und den Siegelring, den er an einer Schnur um den Hals tragen kann und der jederzeit seine Identität beweisen wird.
Als ich am Badebecken vorbeikomme, pulsiert der Gottesstein plötzlich mit so viel Wärme, dass ich unwillkürlich stehen bleibe. Die Fliesen mit ihren vierblättrigen Blüten starren mir entgegen.
Meine Hand fasst nach Roldáns Amulett. Vier gerundete Ausbuchtungen, genau wie bei diesen Blumen. Hastig streife ich die Kette ab und drehe das Schmuckstück um, um es genauer anzusehen. Soll es vielleicht eine Blüte darstellen?
Die Tür erzittert unter lauten Schlägen, dann fliegt sie mit kreischenden Angeln auf, und ich höre erschrecktes Atmen.
»Ist dies das richtige Gemach?« Den Sprecher kann ich, geduckt am Badebecken kauernd, nicht sehen, aber die Stimme lässt mich erschauern.
Auf allen vieren krieche ich ein wenig nach vorn, spähe
vorsichtig ins Schlafzimmer und ziehe den Kopf sofort wieder zurück.
Mein Herz schlägt wild bei der Erkenntnis, dass es keine Flucht mehr gibt. Drei Animagi stehen in der Tür, ihr weißliches Haar leuchtet, und ihre Feuerstein-Amulette sind nach dem Blutvergießen draußen bereits voll erglüht. Condesa Ariña ist bei ihnen.
»Das ist das richtige Gemach, das schwöre ich«, bestätigt sie. Sie hat sie direkt zu mir geführt. Mir hätte klar sein sollen, dass sie mich bei der erstbesten Gelegenheit verraten würde. Ich hätte …
»Wo ist jene, die das Zeichen der Hexenkunst trägt?«
Keine Antwort.
Eine andere Stimme brüllt: »Wenn ihr uns nicht sagt, wer das Zeichen trägt, dann werdet ihr brennen!«
Der Feuerstein hämmert mit wütender Hitze gegen meinen Nabel.
Hitze. Er sollte kalt sein. Eiskalt. Ich starre das Amulett in meiner Hand an, blicke auf die Fliesen. Alle Träger … Kleine gelbe Blumen mit blauen Tupfern, ein tintenblauer Klecks auf jeder Blüte. Helles,
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