Der Findling
unzureichende Obdach aus, wo das Elend die Genossen des Findlings zusammenpferchte, und Grip und er beeilten sich auch gar nicht, als die Stunde der Heimkehr geschlagen hatte.
Viertes Capitel.
Das Begräbniß einer Möwe.
Leicht dürfte man sich fragen, ob der Findling im Kreise dieser moralisch tief stehenden Genossen nicht auch mit Rückschritte gemacht habe. Man begreift wohl, daß ein Kind, dem alle Sorgfalt zu Theil wird, das überall Liebe umgiebt, sich ganz dem Glücke des Lebens hingiebt, daß es, ohne nach dem zu fragen, was gewesen ist oder sein wird, seine Jugend genießt. Doch wenn die Vergangenheit nur eine Kette von Trübsal und Leiden gewesen ist, da erscheint die Zukunft wohl in düstrer Färbung, die sich vom Bilde der Vergangenheit auf sie überträgt.
Was konnte aber der Findling, wenn er ein oder zwei Jahre zurückblickte, sehen? Jenen Thornpipe, den rohen, verthierten Menschen, den mitleidslosen Quälgeist, den er noch immer einmal in den Straßen der Stadt oder draußen auf dem Landwege wieder zu treffen fürchtete und der sich dann seiner gewiß zu bemächtigen suchen würde; daneben kam ihm noch die Erinnerung an jene grausame Frau, die ihn mißhandelte, freilich auch das Bild des kleinen Mädchens, die ihn zuweilen auf den Knien schaukelte.
»Ich glaube mich zu erinnern, daß sie Sissy 1 hieß, sagte er eines Tages zu seinem Freunde.
– Welch’ hübscher Name!« antwortete Grip.
Grip war im Grunde der Meinung, daß jene Sissy nur in der Einbildung des Kindes existierte, denn man hatte nie etwas näheres von ihm in Erfahrung bringen können. Wenn er in dieser Hinsicht indessen einen Zweifel durchblicken ließ, war der Findling nahe daran, bös zu werden. Da er sie in der Erinnerung noch deutlich vor sich sah, mußte er ihr ja einst wieder begegnen. Doch was mochte aus ihr geworden sein? Trennten sie viele Meilen von einander?… Sie liebte ihn ja und er auch sie…. Das war die erste Neigung, die er vor seinem Bekanntwerden mit Grip empfunden hatte, und er sprach von ihr wie von einem großen Mädchen. Sie war so sanft und gut und liebkoste ihn und trocknete seine Thränen, ja sie küßte ihn und theilte mit ihm ihre Erdäpfel….
»Ich hätte sie so gern schützen mögen, wenn die alte häßliche Frau sie schlug, sagte der kleine Knabe.
– Ich auch, und ich glaube, ich würde da derb zugepackt haben!« antwortete Grip, um dem Kinde ein Vergnügen zu machen.
Wenn der wackre Bursche sich übrigens nicht selbst vertheidigte, wenn man ihm zu nahe kam, so wußte er doch recht gut, andre zu vertheidigen und hatte davon schon manchen Beweis geliefert, sobald es darauf ankam, seinen Schützling vor den böswilligen Angriffen der Rotte zu decken.
Einmal schon, in den ersten Monaten seines Aufenthaltes in der Lumpenschule, war der Findling, verlockt durch den Ton der Kirchenglocke, eines Sonntags in die Kathedrale von Galway eingetreten. Nur ein glücklicher Zufall hatte ihn dahin führen können, denn selbst die Touristen haben Mühe, das Bauwerk zu entdecken, das in einem Labyrinth von unsaubern, engen Straßen verloren ist.
Da stand nun das Kind verschämt und furchtsam. Der unerbittliche Küster hätte den Knaben, wenn er diesen erblickte, wie er halb entblößt sich in die Ecke drückte, gewiß nicht in der Kirche gelitten. Der Kleine war ganz erstaunt und entzückt von dem, was er hörte, von den geistlichen Liedern in Begleitung der Orgel, und von dem, was er sah, dem Priester am Altar im goldgestickten Ornate, und den großen Kerzen, die am hellen Tage brannten.
Der Findling hatte nicht vergessen, daß der Pfarrer von Westport manchmal von Gott zu ihm gesprochen hatte, von Gott, der unser aller Vater ist. Er erinnerte sich auch, daß sogar der Puppenschausteller den Namen Gottes in den Mund nahm, freilich nur, wenn er schreckliche Verwünschungen ausstieß, und das verwirrte jetzt seine Gedanken inmitten der religiösen Handlung. Dennoch empfand er, unter der hohen Wölbung hinter einem Pfeiler versteckt, eine Art Neugier, indem er den Geistlichen betrachtete, wie er Soldaten angestaunt hätte. Und während sich die ganze Versammlung beim Aufheben der Monstranz und den Tönen des Glöckchens tief verneigte, da verschwand er wieder, ohne bemerkt worden zu sein, und glitt über die Steinplatten so leise hinweg, wie eine Maus, die in ihr Loch huscht.
Als er sich gerade mit der alten Kriß allein befand. (S. 41.)
Aus der Kirche nach Hause gekommen, erwähnte er davon gegen
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