Der Findling
nicht wieder zum Bewußtsein gekommen.
»Elisa… Elisa!… rief Miß Anna Walston, wir werden uns erkundigen müssen, ob sich nicht vielleicht ein Arzt im Zuge befindet.«
Elisa that das, obgleich sie ihrer Herrin versicherte, daß es sich kaum der Mühe lohne.
Ein Arzt fand sich nicht.
»O, diese Unmenschen… jammerte Miß Anna Walston, man trifft sie nie da, wo sie sein sollten!
– Aber ich bitte Sie, Madame, dem Jungen fehlt ja gar nichts; der wird schon wieder zu sich kommen, wenn Sie ihn nicht ersticken….
– Glaubst Du, Elisa?… Das herzige Kind!… Ich weiß nicht, wie mir ist, ich habe ja noch nie ein Kind gehabt!… Ach, wenn ich ihn selbst hätte nähren dürfen!«
Das war freilich unmöglich, und übrigens stand der kleine Knabe in den Jahren, wo man nach einer festeren Nahrung verlangt.
Der Zug durchflog die Grafschaft Clare – jene Halbinsel zwischen der Bai von Galway im Norden und der langen breiten Ausmündung des Shannon im Süden – einen Landstrich, den man hätte zur Insel umgestalten können, wenn ein kaum fünfzig Kilometer langer Canal am Fuße der Sliève-Sughty ausgehoben worden wäre. Die Nacht war dunkel und es wehte ein ziemlich scharfer Westwind – ein Himmel, wie er zur Situation paßte.
»Ach, der Engel erholt sich nicht wieder! rief Miß Anna Walston immer wieder.
– Soll ich Ihnen etwas sagen, Madame?.
– Sprich, Elisa, sprich, um Gottes Willen!
– Nun… ich glaube, er schläft einfach!«
So war es in der That.
Der Zug gelangte nach Dromor, nach Emis, der Hauptstadt der Grafschaft, wo er gegen Mitternacht eintraf. Weiter nach New-Market, nach Six-Miles an der Grenze und endlich fuhr er gegen fünf Uhr morgens in Limerick ein.
Und nicht nur der kleine Knabe allein hatte während der Reise geschlafen, auch Miß Anna Walston waren die Augen zugefallen, und als sie wieder erwachte, bemerkte sie, daß ihr Schützling sie mit großen Augen ansah.
Da drückte sie ihn wieder in die Arme.
»Er lebt!… Er lebt!… Gott, der ihn mir gegeben hat, kann nicht so grausam sein, ihn mir wieder zu entreißen!«
Elisa meinte zwar, daß Gott auch dann gar nicht grausam gewesen wäre; jedenfalls sah sich der Knabe eigentlich ohne Uebergang aus der Lumpenschule in die prächtigen Zimmer versetzt, die Miß Anna Walston während ihrer Gastvorstellung am Theater zu Limerick im Royal-George-Hôtel bewohnte.
Die Grafschaft Limerick hat sich in der Geschichte Irlands einen Namen gemacht, denn hier regte sich zuerst der Widerstand der Katholiken gegen das protestantische England. Treu der Jacobitischen Dynastie, ist seine Hauptstadt dem schrecklichen Cromwell entgegengetreten und hat eine merkwürdige Belagerung ausgehalten, bis sie, von Hunger bezwungen und in Blut gebadet, schließlich unterlag. Hier wurde der Vertrag, der den gleichen Namen führt, unterzeichnet, der Vertrag, der den irländischen Katholiken gleiche bürgerliche Rechte und freie Ausübung ihres Cultus gewährleistete. Freilich wurden die damaligen Abmachungen von Wilhelm von Oranien rücksichtslos verletzt. Wieder mußte das Volk nach langen, erniedrigenden Quälereien zu den Waffen greifen; trotz allen Muthes aber und obwohl ihnen die französische Revolution ihren Hoche zu Hilfe geschickt hatte, unterlagen die Irländer, die, wie sie sagten, »mit dem Stricke am Halse« kämpften, doch endlich bei Ballinamach den weitaus überlegenen Gegnern.
Endlich, im Jahre 1829, fanden die Rechte der Katholiken, Dank den Bemühungen des großen O’Connell, die langentbehrte Anerkennung. Dieser schwang das Banner der Unabhängigkeit und rang der Regierung Großbritanniens die ersehnte Emancipationsbill ab.
Da diese Erzählung in Irland spielt, sei es uns gestattet, folgende flammende Rede anzuführen, die O’Connell jener Zeit den Staatsmännern Englands ins Gesicht schleuderte. Man darf ihre Bedeutung nicht unterschätzen. Sie hat sich tief in das Herz der Irländer eingegraben, und an verschiedenen Stellen dieser Erzählung wird der Leser noch ihren Einfluß herausfühlen.
»Niemals hat es ein unwürdigeres Ministerium gegeben! rief O’Connell eines Tages. Stanley ist ein Renegat; Sir James Graham vielleicht etwas noch schlimmeres; Sir Robert Peel eine scheckige Fahne mit fünfhundert Farben und nicht einmal echt in der Farbe, denn sie erscheint heute orangeroth, morgen grün, übermorgen wieder anders; es ist aber darauf zu achten, daß sie einmal mit Blut gefärbt wird. Was Wellington, den armen Mann betrifft,
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