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Der Findling

Der Findling

Titel: Der Findling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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gegebenen Küsse nur Bühnenküssen, so konnte der Findling den Unterschied ja nicht wahrnehmen. Immerhin fühlte er sich nicht so geliebt, wie er es gewünscht hätte, und vielleicht sagte er sich unbewußt, was Elisa nicht selten wiederholte:
    »Wer weiß, wie lange es dauern wird, wenn es überhaupt andauert!«
Siebentes Capitel.
Eine gefährdete »Situation«.
    Sechs Wochen verflossen unter diesen Verhältnissen, und niemand wird es wundern, daß sich der Findling an dieses angenehme Leben gewöhnte. Wer das Elend erdulden gelernt hat, wird noch leichter das Wohlleben ertragen. Dagegen blieb es fraglich, ob Miß Anna Walston’s warme Empfindung für den Knaben sich mit der Zeit nicht abkühlen würde. Gefühle unterliegen ja ebenso dem Gesetze der Trägheit wie greifbare Körper: erhält man die Triebkraft nicht länger, so kommen sie zum Stillstand. Sie war jener Zeit nur einer »Rührung« verfallen, wie sie durch manche Scene auf der Bühne die Zuschauer gefangen nehmen. Und dennoch durfte man nicht glauben, daß das Kind für sie nur den Werth eines Zeitvertreibs, eines Spielzeugs oder einer Reclame hatte, denn sie war von Natur wirklich gutherzig angelegt. Wenn sie auch weiter für den Kleinen sorgte, so wurden ihre Liebkosungen doch kürzer, ihre Aufmerksamkeiten seltner. Dazu kommt die starke Inanspruchnahme einer Schauspielerin, die ihre Rollen zu lernen, viele Proben zu besuchen hat, und der die Vorstellungen kaum einen Abend frei lassen. Das strengt ja schließlich an. In den ersten Tagen hatte sie sich den Cherub früh an ihr Bett bringen lassen, wo sie mit ihm wie ein »Mütterchen« spielte.
    Das störte aber ihren gewöhnlich lang ausgedehnten Morgenschlummer und so verlangte sie sehr bald das Kind erst beim Frühstück. Wie freute der Kleine sich, auf einem eigens für ihn beschafften hohen Stuhle zu sitzen, und wie schmauste er mit vortrefflichem Appetit!
    »Na, mein Junge, so ist’s hübsch, nicht wahr? fragte sie.
    – Ach ja, Miß Anna, erwiderte er eines Tages, so gut wie das, was wir im Hospiz bekamen, wenn wir krank waren.«
    Der Findling hatte eine feinere Lebensart eben noch nicht gelernt – weder Thornpipe noch O’Bodkins hätte ihm diese ja lehren können – er war sonst zurückhaltender Natur, sanften und liebevollen Charakters und, wie wir wissen, so ganz anders als die verwahrlosten Zöglinge der
Ragged-School
. Wie seinem Alter, war er aber auch nach geistiger Seite weit voraus, und Miß Anna Walston konnte das nicht entgehen. Von seiner Vergangenheit wußte sie freilich nur das, was er ihr darüber seit seiner Befreiung aus den Händen des Marionettenschaustellers erzählen konnte. Jedenfalls war er also ein Findelkind. Seine »angeborne Vornehmheit«, wie sie es nannte, bestärkte in der Künstlerin jedoch den Glauben, daß er der Sohn einer großen Dame sein müsse, wie das in Dramen ja so gewöhnlich ist, ein Sohn, von dem jene sich ihrer gesellschaftlichen Stellung wegen habe lossagen müssen. Daraufhin dichtete sie sich über ihren Schützling einen ganzen Roman zusammen, der übrigens nicht einmal mehr den Reiz der Neuheit hatte. So ersann sie gewisse »Situationen«, die in dramatischer Bearbeitung einen starken Thräneneffect erzielen würden. Sie wollte in diesem Stücke spielen, sie versprach sich davon einen ungewöhnlichen Erfolg… sie würde sich darin hinreißend… himmlisch zeigen u. s. w. Und als sie in Gedanken so weit gelangt war, da ergriff sie ihren Engel, umarmte ihn stürmisch, ganz wie auf der Bühne, und glaubte schon den jubelnden Beifall der Zuschauer zu hören.
    Eines Tages sagte da der Findling, dem die Sache unheimlich zu werden anfing:
    »Miß Anna?…
    – Was willst Du, mein Herzchen?
    – Ich möchte Sie etwas fragen.
    – So frage nur, mein Schatz.
    – Sie werden mir darum nicht böse?
    – Ich… Dir böse werden?
    – Jeder hat doch wohl eine Mutter?
    – Natürlich, mein Engel, hat jedes Kind eine Mutter.
    – Warum kenne ich denn dann meine Mutter nicht?
    – Warum?… Ja, weil… antwortete Miß Anna Walston verlegen, weil… das… seine Gründe hat. Später einmal… ja, das glaub’ ich bestimmt… wirst Du sie schon zu sehen bekommen….
    – Ich habe Sie doch sagen hören, daß es eine schöne Dame sei, nicht wahr?
    – Ja, ganz gewiß!… Eine schöne Dame!
    – Und warum denn gerade eine schöne Dame?
    – Nun weil… nun ja, Deine Gestalt… Dein Gesichtchen… Ist er doch drollig, der liebe Kleine, mit seinen Fragen!…

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