Der Fledermausmann
verschlossen haben, weil wir die Wahrheit nicht verkraften. Weil wir uns nicht genügend dafür eingesetzt haben. Weil wir es uns gestattet haben, schwach und menschlich zu sein.«
Harry begriff, worauf Lebie hinaus wollte. Der Kellner brachte den Fisch.
»Du bist es, der ihm dort draußen am nächsten gekommen ist, Harry. Du warst es, der mit dem Ohr am Boden gelegen hat, und vielleicht kannst du seine Schritte an der Art der Vibration wiedererkennen. Es wird immer mehr als hundert gute Gründe dafür geben, sich zu betrinken, aber wenn du in einem Hotelzimmer liegst und auf den Boden kotzt, bist du für keinen hier mehr eine Hilfe. Er ist nicht menschlich. Deshalb dürfen wir auch nicht menschlich sein. Wir müssen alles aushalten, allem widerstehen.«
Lebie faltete seine Serviette auseinander. »Aber wir müssen essen.«
Harry setzte das Whiskeyglas an seine Lippen und trank langsam, wobei er Lebie anschaute. Dann stellte er das leere Glas wieder auf den Tisch, verzog sein Gesicht zu einer Grimasse und griff nach Messer und Gabel. Dann aßen sie schweigend.
Harry mußte lächeln, als er erfuhr, daß Wadkins Yong geschickt hatte, um Otto Rechtnagels fette Nachbarin zu verhören.
»Wir können nur hoffen, daß sie sich nicht auf ihn setzt«, sagte Lebie.
Harry und Lebie fuhren nach King's Cross hinaus, wo Harry ausstieg.
»Danke, Sergej. Ich glaube, wie gesagt, daß es besser ist, wenn ich von hier aus alleine weitermache.«
Lebie grüßte ihn mit den Fingern an der Stirn und verschwand.
Sandra stand an ihrem gewohnten Platz. Sie erkannte ihn nicht wieder, bis er unmittelbar vor ihr war.
»Danke für den netten Abend«, sagte sie, und ihre winzigen Pupillen machten einen höchst abwesenden Eindruck.
Sie gingen ins Bourbon & Beef hinüber. Eilig kam der Kellner angelaufen und schob ihr den Stuhl zurecht.
Harry fragte, was Sandra trinken wolle, und bestellte eine Cola und einen großen Whiskey.
»Puh, ich dachte, der käme so schnell, um mich hier rauszuwerfen«, sagte sie erleichtert.
»Ich bin so eine Art Stammgast«, erklärte Harry.
»Wie geht es deiner Freundin?«
»Birgitta?« Harry zögerte. »Ich weiß nicht. Sie will nicht mehr mit mir reden. Beschissen, hoffe ich.«
»Warum hoffst du, daß es ihr schlechtgeht?«
»Ich hoffe halt, daß sie mich liebt.«
Sandra lachte heiser.
»Und wie geht es dir, Harry Hole?«
»Beschissen!« Harry lächelte traurig. »Aber es mag sein, daß ich mich ein bißchen besser fühlen werde, wenn ich einen Mörder zu fassen kriege.«
»Und du glaubst, daß ich dir dabei helfen kann?« fragte sie und zündete sich eine Zigarette an. Ihr Gesicht war, wenn das überhaupt möglich war, noch blasser und ausgemergelter als sonst. Ihre Augen hatten rote Ränder.
»Wir ähneln einander«, sagte Harry und zeigte auf ihre Spiegelbilder in den geschwärzten Fensterscheiben neben ihrem Tisch.
Sandra sagte nichts.
»Ich erinnere mich, wenn auch etwas unklar, daß Birgitta deine Tasche auf das Bett geworfen hat und dabei alles herausgefallen ist. Zuerst habe ich geglaubt, du hättest einen Pekinesen in der Tasche gehabt.« Harry machte eine Pause. »Sag mal, wofür brauchst du denn eine blonde Perücke?«
Sandra schaute aus dem Fenster. Das heißt, sie schaute in das Fenster, vielleicht auf ihr eigenes Spiegelbild.
»Ein Kunde hat mir die gekauft. Er möchte, daß ich sie trage, wenn ich bei ihm bin.«
»Wer ist...«
Sandra schüttelte den Kopf. »Vergiß es, Harry. Das sage ich dir nicht. Es gibt in meinem Gewerbe nur wenige Regeln, aber nicht zu verraten, wer zu den Kunden gehört, ist eine davon. Und das ist eine gute Regel.«
Harry seufzte.
»Du hast Angst«, sagte er.
Sandras Augen schienen Feuer zu fangen.
»Versuch es nicht, Harry. Das führt zu nichts, okay?«
»Du brauchst mir nicht zu sagen, wer es ist, Sandra. Ich weiß es. Ich wollte nur erst einmal wissen, ob du Angst hast, es zu erzählen.«
» Ich weiß es «, äffte ihn Sandra verärgert nach. »Und woher willst du das wissen?«
»Ich habe den Stein gesehen, der aus deiner Tasche gekullert ist, Sandra. Den grünen Kristall. Ich habe ihn an dem aufgemalten Sternzeichen wiedererkannt. Er hat ihn dir gegeben. Der Stein kommt aus dem Geschäft seiner Mutter, Crystal Castle .«
Sie schaute ihn mit großen, schwarzen Augen an. Ihr roter Mund war zu einer häßlichen Grimasse erstarrt. Vorsichtig legte Harry seine Hand auf ihren Arm.
»Warum hast du so viel Angst vor Evans White, Sandra?
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