Der Tod macht Schule: Bröhmann ermittelt wieder (German Edition)
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1. Kapitel
F rau Dr. Ellen Murnau, die Schuldirektorin meiner Tochter, liegt unter ihrem Schreibtisch und schreit.
«Machen Sie doch was, Sie sind doch Polizist!»
Sie meint mich, denn zum einen ist niemand anderes im Zimmer, zum anderen bin ich nun einmal tatsächlich bei der Polizei.
Doch auch ein Polizist muss erst einmal die Dinge sortiert bekommen, und daher mache ich zunächst einmal gar nichts. Sage auch nichts, sondern starre auf den golfballgroßen Stein, der vor ungefähr sieben Sekunden durch die Fensterscheibe krachte und nur knapp den adrett frisierten Kopf der Schulleiterin verpasst hat.
Eben noch teilte mir Frau Dr. Ellen Murnau mit abgeklärter Stimme mit, dass Melina nur mit viel Aufwand, Anstrengung und einer veränderten Arbeitseinstellung die Versetzung in Klassenstufe 11 erreichen werde. Nun hat sich die Sach- und vor allem ihre Stimmlage schlagartig verändert. Ich hatte einiges bei diesem Gespräch befürchten müssen und auch mit viel Schlimmem gerechnet, aber nicht unbedingt damit, dass Steine durchs Büro segeln.
«Machen Sie doch was!», brüllt sie erneut, noch immer unter ihrem Tisch kauernd. Irgendwie hat sie ja recht, wenn sie so etwas von einem Hauptkommissar einfordert, aber es bringt doch nun mal nichts, wenn sie mich so anschreit, finde ich. Ich blicke auf die am Boden liegenden Glasscherben und warte darauf, dass sie es ein drittes Mal tut.
Sie tut es.
Ich gucke zum Fenster, als würde ich auf den nächsten Stein warten. Draußen rennt eine schmale Jungengestalt im Kapuzenpullover hastig über den Schulhof der Vogelsbergschule Schotten.
«Da rennt jemand», sage ich zu Frau Dr. Ellen Murnau und zeige mit dem Finger in Richtung Schulhof.
Frau Dr. Murnau, inzwischen wieder aus ihrem Schreibtischversteck herausgekrochen, streift sich ihren himmelblauen Hosenanzug glatt, richtet hektisch ihre Hochsteckfrisur und befiehlt mir in einem Tonfall, mit dem sie sonst vermutlich Fünftklässler maßregelt, die ihre Hausaufgabenhefte nicht ordentlich geführt haben, dass ich doch nun gefälligst hinterherlaufen solle.
Auf diese Idee bin ich aber auch schon selbst gekommen.
Ich renne los und stolpere über das Kabel eines Overheadprojektors, ein Gerät, von dem ich dachte, dass es so etwas im 21. Jahrhundert in Deutschlands Schulen gar nicht mehr gäbe. Nicht so mitten in Hessen. Ich sprinte. Ging auch schon mal schneller und schmerzfreier, denke ich, als ich an diesem milden Frühlingsmittwochnachmittag mit meinen 39 Jahren durch die leeren Schulgänge keuche.
Auf dem Schulhof angekommen, mein linkes Knie und die rechte Hüfte machen sich schon schmerzhaft bemerkbar, ist kein Kapuzenbursche mehr zu sehen. Ich entscheide mich daher für einen dynamischen Gehschritt, der mir trotzdem ermöglicht, eine Zigarette anzuzünden, und schreite in Richtung Waldrand. Meine Hände tasten mich ab und finden mein Handy nicht. Ich kann also im Moment nicht einmal meine Kollegen anrufen und sie auf die Jagd schicken.
Plötzlich entdecke ich in der Nähe des Einkaufsmarktes den Kapuzenpulli. Ich überquere die Straße und renne zielstrebig auf ihn zu. Er sieht mich, verschärft sein Tempo und spurtet Richtung Wald. In wenigen Sekunden hat sich der Abstand zwischen uns verdoppelt.
«Stehen bleiben, stehen bleiben», rufe ich in die Vogelsberger Weite.
Ich bleibe stehen, keuche noch stärker und stelle fest, dass er weg ist. Ich habe Seitenstechen, wie früher die dicken Mädchen im Turnunterricht. Wie erbärmlich.
Ich weiß, dass ich gleich zurück muss, zur Schule, zu Frau Dr. Ellen Murnau. Doch jetzt noch nicht, später, entscheide ich, wische mir den Schweiß von der Stirn, begutachte die nassen Flecken unter den Armen, zünde mir eine weitere Zigarette an und setze mich mit Blick auf die Gesamtschule auf einen Baumstumpf. Hier also wird meine Tochter Melina ein weiteres zusätzliches Jahr verbringen dürfen. Wenn nicht ein Wunder geschieht oder sie den Plan, das Abitur zu erreichen, vorzeitig in den Vogelsberger Wind schießt. Hauptsache nur, sie wird nicht von einem Stein erschlagen.
Urplötzlich muss ich an DAS denken. DAS, was mein Leben ins Wanken brachte. DAS, was alles durcheinanderwarf und so vieles veränderte. Sogar mich. Über ein Jahr ist das nun schon alles her. In den letzten Monaten ist es mir immer häufiger gelungen, Gedanken und Erinnerungen daran zu vermeiden. Man kann sogar sagen, dass wieder so etwas wie Ruhe eingekehrt ist.
Ich habe
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