Der Fledermausmann
außerhalb der Besuchszeit. Weil ich infolge der schweren Gehirnerschütterung Wahrnehmungsstörungen hatte, durfte ich weder lesen noch fernsehen. Also hat Vater mir vorgelesen. Er saß an meinem Bett und flüsterte mir ins Ohr, um mich nicht zu sehr zu erschöpfen.
Ich hatte einen Mann getötet und das Leben eines anderen zerstört, trotzdem lag ich in einem Kokon aus Liebe und Fürsorge. Und das erste, was ich tat, als ich wieder in einem Mehrbettzimmer lag, war, meinen Nebenmann zu bestechen, damit der seinen Bruder dazu brachte, mir eine Flasche Gin zu kaufen.«
Harry hielt inne. Birgittas Atem ging ruhig und gleichmäßig.
»Bist du schockiert?« fragte er.
»Ich wußte vom ersten Augenblick an, daß du Alkoholiker bist«, antwortete Birgitta. »Mein Vater ist Alkoholiker.« Harry wußte nicht, was er dazu sagen sollte.
»Erzähle weiter«, bat sie.
»Der Rest . . . der Rest betrifft die norwegische Polizei. Das brauchst du eigentlich nicht zu wissen.«
»Norwegen ist weit weg«, sagte sie.
Harry gab ihr schnell einen Kuß.
»Für heute hast du genug gehört«, sagte er. »Die Fortsetzung folgt beim nächsten Mal. Ich muß jetzt los. Ist es in Ordnung, wenn ich auch heute abend ins Albury komme und dich von der Arbeit abhalte?«
Birgitta lächelte etwas traurig – und Harry spürte, daß er sich viel tiefer in diese Sache verstrickte als gut war.
»Sie kommen spät«, stellte Wadkins fest, als Harry das Büro betrat. Er legte einen Stapel Kopien auf seinen Schreibtisch.
»Jetlag. Gibt es etwas Neues?« fragte Harry.
»Ich hab hier etwas Lesestoff für Sie. Yong Sue hat alte Vergewaltigungsfälle ausgegraben. Er und Kensington schauen sich das gerade an.«
Harry brauchte erst einmal eine richtige Tasse Kaffee und ging in die Kantine hoch. Dort stieß er auf einen gutgelaunten McCormack. Sie setzten sich jeder mit einem White flat an einen Tisch.
»Das Justizministerium hat angerufen. Sie sind dort vom norwegischen Justizministerium angerufen worden. Ich habe gerade mit Wadkins gesprochen und erfahren, daß Sie jemanden auf dem Kieker haben?«
»Evans White. Vielleicht. Er behauptet, ein Alibi für den Mordzeitpunkt zu haben. Wir haben die Polizei in Nimbin gebeten, die Frau, mit der er zusammengewesen sein will, zu verhören, um die Geschichte zu überprüfen. White hat die Anordnung erhalten, am Ort zu bleiben.«
McCormack grunzte.
»Sie haben den Kerl mit eigenen Augen gesehen, Holy, ist er es?«
Harry schaute in seinen Kaffee. Die weißen Milchspiralen wirbelten wie Sternennebel in der Tasse herum.
»Um mit einer Analogie zu sprechen, Sir, wußten Sie, daß das Milchstraßensystem ein Spiralnebel mit mehr als hunderttausend Millionen Sternen ist? Daß man, wenn man tausend Jahre lang mit Lichtgeschwindigkeit im rechten Winkel durch einen dieser Spiralarme fliegt, doch erst die halbe Strecke zurückgelegt hat? Ganz zu schweigen davon, wie lange es dauern würde, längs durchzufliegen, oder gar durch die ganz Milchstraße . . .«
»Sie sind mir für den frühen Morgen doch ein wenig zu philosophisch. Was wollen Sie damit sagen, Holy?«
»Daß die Natur des Menschen ein großer, dunkler Wald ist, in dem sich niemand im Laufe eines kurzen Menschenlebens richtig auskennt – daß ich keine Ahnung habe, Sir.«
McCormack schaute Harry an. Er sah besorgt aus.
»Sie fangen an, sich wie Kensington anzuhören, Holy. Vielleicht war es doch ein Fehler von mir, Sie beide zusammenarbeiten zu lassen, in dem Gehirn dieses Kerls spielt sich so viel Merkwürdiges ab.«
Yong legte eine Folie auf den Projektor.
»Jedes Jahr werden in diesem Land etwa fünftausend Vergewaltigungen gemeldet. Es versteht sich von selbst, daß es unmöglich ist, bei solch einer Auswahl ein Muster zu erkennen, ohne die Statistik anzuwenden. Ganz einfache, rationale Statistik. Stichwort Nummer eins: Signifikanz. Wir suchen mit anderen Worten nach einer Systematik, die nicht über statistische Zufälle zu erklären ist. Stichwort Nummer zwei: Demographie.
Ich habe zuerst nach Angaben in Verbindung mit unaufgeklärten Mordfällen oder Vergewaltigungen gesucht, die die Worte ›Würgen‹ oder ›Erdrosseln‹ beinhalteten. Dabei bin ich auf zwölf Morde und ein paar hundert Vergewaltigungen gestoßen. Dann habe ich die Auswahl reduziert, indem ich eingegeben habe, daß es sich bei den Opfern um blonde Frauen zwischen 16 und 35 handeln muß, noch dazu von der Ostküste. Die öffentliche Statistik und unsere eigenen
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