Der Fluch der Abendröte. Roman
du dich erschreckst«, sagte er nachsichtig. »Ich meine – das Gebäude stand so lange leer … die ganzen Jahre über hat sich kein Käufer gefunden. Jetzt muss man sich erst wieder dran gewöhnen, dass es bewohnt wird.«
»Es ist verkauft worden?«
»Das habe ich zumindest gehört. Und der neue Besitzer scheint heute einzuziehen.«
Ich blickte wieder nach oben und atmete hörbar aus. Die schwarze Gestalt war wieder verschwunden.
»Merkwürdig, dass gar kein Möbelwagen zu sehen ist«, murmelte Lukas, »vielleicht habe ich mich auch geirrt, und der Einzug findet erst morgen statt.«
»Weißt du … weißt du etwas über den neuen Besitzer?«
»Nun, offenbar ist es ein alleinstehender Herr. Seinen Namen kenne ich nicht, aber er scheint sehr reich zu sein, sonst könnte er sich dieses Anwesen gar nicht leisten. Kommst du?«
Ein Herr … alleinstehend … reich …
Das klang nach Caspar. Wobei Caspar, wenn er noch leben würde und hierher zurückgekehrt wäre, das Anwesen nicht kaufen müsste. Was wiederum bedeutete, dass der dunkle Mann dort oben unmöglich Caspar sein konnte. Doch wer war dieser neue Besitzer dann? Vielleicht ein Verwandter von Caspar und somit auch ein Nephil? Dann allerdings hätte er das Anwesen geerbt und müsste nicht dafür bezahlen.
Die alles entscheidende Frage aber war: Hatte die Tatsache, dass jemand in diesem Anwesen leben würde, mit Nathans Verschwinden zu tun? Und mit der Tatsache, dass Aurora sich veränderte?
»Kommst du?«, fragte Lukas wieder.
Ich schüttelte den Kopf. »Mir ist gerade etwas eingefallen …«, murmelte ich. »Ich habe noch etwas Dringendes zu erledigen … Steuerkram … wegen meiner Klavierstunden …«
Noch im Reden wandte ich mich von ihm ab.
Auch wenn der neue Besitzer nicht Caspar war, konnte ich nicht in Ruhe bei Lukas Kaffee trinken. Ich ging grußlos, winkte nur ein letztes Mal, als Lukas mir – sichtlich verwirrt – nachrief, dass ich ihn dann eben ein anderes Mal besuchen sollte. Dann eilte ich die Straße entlang.
In den nächsten Stunden suchte ich weiter nach Nathan. Ich rief oder murmelte seinen Namen, flehte laut oder im Stillen, er möge zurückkommen und mir alles erklären. Immer wieder suchte mein Blick Caspars Anwesen. Doch von dem neuen Besitzer, den Lukas und ich gesehen hatten, fehlte fortan jede Spur – und von Nathan auch.
Ich ging nun doch in den Wald und wanderte dort die Forststraße auf und ab, aber begegnete keiner Menschenseele. Als ich zur Villa zurückgekehrt war, eilte ich von Zimmer zu Zimmer – ein unsinniges Unterfangen, denn wenn Nathan hier gewesen wäre, hätte er bestimmt sofort auf mein Rufen geantwortet. Dennoch verzichtete ich nicht darauf, das Haus gründlich zu durchforsten, um gleich danach wieder nach draußen zu laufen und dort weiterzusuchen. Irgendwann war ich so erschöpft, dass ich mich auf den Stufen vor dem Haus niederließ und meinen Kopf auf die Knie legte. So fand mich Aurora, als sie am späten Nachmittag von der Schule heimkam. Als ich den Kopf hob, kam sie mir aufgeregt entgegengelaufen.
»Mama, Mama, schau nur!«
Im ersten Augenblick durchflutete mich tiefe Erleichterung, als sie mit ausgestreckter Hand hinter sich deutete. Nathan, gewiss zeigte sie auf Nathan! Doch dann stellte ich fest, dass sie lediglich auf den schwarzen Himmel wies. Ich hatte kaum gemerkt, dass es in den letzten Stunden immer schwüler geworden war. Erst jetzt fühlte ich die klebrige Schweißschicht, die auf meiner Stirn, meinem Nacken, meinem Rücken lag. Der vorhin noch blaue Himmel hatte sich in ein schmutziges Gelb verfärbt, in der Ferne türmten sich dunkle Wolken auf, zogen langsam, aber sicher und von einem Grollen begleitet auf Hallstatt zu. Der Laut hallte von den Bergen und Gletschern wider; es klang so unheimlich, als würden inmitten der uralten Gesteinsmassen Riesen sitzen und fluchen.
Aurora hatte gerade das Haus erreicht, als der erste Blitz den Himmel zerriss und ihm ein neuerliches Donnern folgte – viel näher nun als das Grollen der Riesen. Der Laut ging mir durch Mark und Bein.
»Ein Gewitter!«, stieß Aurora aus.
»Was für ein verrücktes Wetter!«
An einem Tag war es herbstkühl, dann wieder schickte der Sommer einen letzten Gruß – und nun das. Ich hatte schon viele Gewitter erlebt, doch nirgendwo sonst schienen die Naturgewalten so entfesselt und ungebärdig zu toben wie in Hallstatt, wo der See beängstigend den schwarzen Himmel und die Blitze spiegelte und die
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