Der Fluch der Abendröte. Roman
wegblieb. Instinktiv hatte sie sich gekrümmt und so verhindert, dass ihr Kopf auf dem kalten Boden aufgeschlagen war, doch alle Knochen taten ihr weh. Der Wunsch, der Schmerz würde nachlassen, höhlte ihre Panik aus, ihre Verzweiflung.
Wie aus weiter Ferne vernahm sie Gelächter. Jemand beugte sich über sie, murmelte etwas. Es waren Worte in einer Sprache, die sie nicht verstand. Vielleicht war es sogar ihre eigene Sprache – aber wie sollte sie sie verstehen, wenn sie ihren eigenen Namen nicht mehr wusste? Jemand anderes schien die Worte hingegen gut zu verstehen. Neben ihr ertönte eine Art Klagelaut, nicht bösartig und spöttisch wie das Lachen, sondern verzweifelt. Sie rollte ihren Kopf zur Seite, begriff erst jetzt, dass man ihr den Sack vom Kopf gezogen hatte, und sah im diffusen Licht, dass jemand neben ihr hockte, sich klein zu machen versuchte, weinte.
Sie war also nicht die einzige Gefangene, die hier eingesperrt war, sie war nicht alleine. Sie seufzte erleichtert. Eben noch waren Hilflosigkeit und Einsamkeit ein schwarzes, bodenloses Loch gewesen, in dem sie vollends verschwunden war. Nun gab es etwas, was sie zurückhielt.
Sie streckte ihre Hände aus, betastete den Boden. Der Kofferraum war stickig und eng, aber auch weich gewesen – hier stieß sie auf Stein, feucht und klamm. Immerhin belebte sie die kühle Luft, die in ihre Lungen drang. Sie richtete sich auf, vorsichtig zwar und doch sogleich vom Schmerz bestraft, der ihren Kopf zu zerreißen schien. Als er wieder nachließ, spürte sie, wie eine Hand nach ihr griff – die warme Hand der anderen Gefangenen, die ihre drückte. Sie erwiderte den Druck, fühlte erstmals Zuversicht.
Es wird alles gut, es wird doch alles gut.
Das Gefühl währte nicht lange. Als sie den Kopf hob, starrte sie nicht in das Gesicht der anderen Gefangenen, sondern in das ihres Entführers. Er hatte sich neben sie gehockt, beugte sich über sie, sprach wieder Worte – und diesmal verstand sie sie. Sie begriff auch, wer er war. Begriff es, weil ihr sein Gesicht so vertraut war, vor allem sein Blick, der sich in ihre Augen bohrte. Der Blick tat weh – auf andere Weise als der Schmerz ihrer Wunde, aber doch ähnlich unerträglich. Sie schrie, schrie noch lauter als zuvor im Kofferraum, schrie in Todesangst, schrie sich das Entsetzen aus ihrem Leib, doch sobald es draußen war, kehrte es wieder, ließ sie nicht los. Sie schrie, bis sie keine Luft mehr hatte. Was zählte es, wenn sie an ihrem Entsetzen erstickte? Der Tod erschien ihr gnädiger als die Erkenntnis, in wessen Hände sie geraten war.
Ich schlug die Augen auf, der verzweifelte Schrei der Frau aus meinem Traum hallte in mir nach, ich wollte mit ihr schreien, aber meine Lippen schienen wie verschweißt. Ich konnte mich nicht rühren, konnte nur daliegen, in die Dunkelheit starren. Obwohl ich nichts anderes sah als Schwärze, hatte ich das Gefühl, dass jemand sich über mich beugte, mich betrachtete – spöttisch, aufdringlich, feindselig.
Ich schloss die Augen wieder, wartete eine Weile. Dann spürte ich ein Kribbeln in Händen und Füßen, als Blut in die vermeintlich tauben Glieder zurückströmte. Nun endlich konnte ich meinen Mund öffnen, konnte mir mit der Zungenspitze über die rauen Lippen fahren – nur schreien konnte ich nicht mehr. Ich wälzte mich zur Seite, wollte mich an Nathan schmiegen, seinen warmen, weichen Körper fühlen, mich an seiner Seite kurz von allen Bedrohungen und Gefahren davonstehlen, unsere Liebe genießen. Doch als ich nach ihm tastete, fühlte ich nur das leere Kopfkissen. Nathan lag nicht neben mir.
»Nathan?«
Ich richtete mich auf, blickte mich um. Er stand auch nicht am Fenster, er war einfach … fort.
Es war, als würde eine kalte Faust in meinen Magen schlagen.
»Nathan«, flüsterte ich erneut, und diesmal klang es wie ein Schluchzen.
Obwohl es viele Erklärungen dafür geben konnte, warum er nicht hier war, hatte ich plötzlich das Gefühl, der Albtraum würde mich einholen, endgültig nun, ohne gnädiges Erwachen.
Allein.
Verlassen.
Schutzlos.
Ich suchte nach meinen Hausschuhen, schlüpfte in den Bademantel, versuchte mir einzureden, dass diese fiebrige Unruhe, die meine Hände zittern ließ, und dieses Gefühl, als würde meine Brust zerspringen, völlig übertrieben waren. Nathan war eben früher aufgestanden, wahrscheinlich hatte er noch einmal versucht, Cara anzurufen. Diesmal hatte er sie erreicht, sie hatte ihn beruhigen können, und nun
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