Der Fluch der Abendröte. Roman
wartete er gewiss mit einer guten Nachricht in der Küche auf mich.
Ich eilte hinunter, riss die Küchentür auf – jemand saß tatsächlich dort am Tisch. Doch es war nicht Nathan, sondern Aurora.
Für gewöhnlich bekam ich sie morgens kaum aus dem Bett, damit sie sich für die Schule fertig machte. Heute hatte sie sich nicht nur selbständig angezogen und frisiert, sondern bereits eine Tasse Kakao getrunken. Sie wirkte nicht verträumt und verschlafen wie sonst, sondern blickte mir aus hellwachen Augen entgegen. Erleichterung überflutete mich. Nathan musste sie geweckt und ihr Frühstück gemacht haben. Er hatte mich schlafen lassen – und zugleich diese Gelegenheit genutzt, um die Distanz zu seiner Tochter zu überbrücken.
Meine Erleichterung hielt nur so lange an, bis mein Blick auf die Küchenuhr fiel. 6.15 Uhr. Normalerweise stand Aurora nie vor 7.00 Uhr auf. Trotz des warmen Bademantels fröstelte ich.
»Mama, was hast du denn?«
Auroras Blick war weiterhin auf mich gerichtet … und erschien mir plötzlich nicht mehr wach, sondern merkwürdig starr und irgendwie abschätzend. Er wirkte nicht wie der Blick eines Kindes, sondern wie der einer Erwachsenen.
Ich schüttelte den Kopf. Ich ertrug diesen Gedanken nicht … nicht jetzt, solange Nathan nicht hier war.
»Hast du Nathan gesehen?«, fragte ich und versuchte das Zittern in meiner Stimme zu unterdrücken.
Sie zuckte nur die Schultern. »Heute noch nicht.«
»Und du bist von ganz allein wach geworden?«
»Ich konnte nicht mehr schlafen.«
Sie senkte ihren Blick, und anstatt meiner ersten Regung zu folgen und ins Wohnzimmer zu stürzen, um dort nach Nathan zu suchen, atmete ich tief durch. Besser, sie bemerkte nichts von meiner Unruhe. Als wäre es ein ganz alltäglicher Morgen, machte ich Kaffee und stellte ein paar unbekümmerte Fragen zur Schule und zu Mia. Aurora beantwortete sie ziemlich unbeteiligt und knapp, aber immerhin bereitwillig. Wir verstummten, als der Kaffee wie immer mit lautem Brummen und Getöse aus der Maschine lief, und als es endlich wieder still in der Küche war und ich eine neue Frage stellen wollte, erklärte Aurora unvermittelt: »Nathan hat mitten in der Nacht das Haus verlassen. Kurz nach Mitternacht.«
Ich fuhr herum. Beinahe rutschte mir die Kaffeetasse aus der Hand. »Du hast ihn gehört?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Aber woher …«
»Ich weiß es eben«, fiel sie mir ins Wort. So lustlos sie bisher geantwortet hatte, so energisch klang sie jetzt. Sie schien keinen Widerspruch zu dulden. Der blieb mir ohnehin im Hals stecken.
Beruhige dich, beruhige dich, beruhige dich!, befahl ich mir im Takt meines unrhythmisch schlagenden Herzens.
Natürlich hatte sie ihn gehört, sie drückte sich nur missverständlich aus. Und woher soll sie gewusst haben, dass es erst kurz nach Mitternacht gewesen war? Wahrscheinlich hatte er das Haus erst im Morgengrauen verlassen, aber sie ging – schlaftrunken wie sie war – davon aus, dass es mitten in der Nacht war.
»Weißt du auch, wohin er wollte?«, fragte ich nach einer Weile zögernd. Ich wärmte meine plötzlich eiskalten Hände an der Kaffeetasse, aber ich hatte noch keinen Schluck getrunken.
»Nein«, gab sie zurück. Es blieb bei dieser einsilbigen Antwort. Kurz darauf erhob sie sich mit gleichgültigem Gesicht. »Ich muss jetzt los.«
»Aber es ist doch noch viel zu früh!«
»Mia wartet auf mich …«
Ohne mir die Gelegenheit zu geben, noch etwas zu sagen, ging sie in ihr Zimmer und kam wenig später mit dem fertiggepackten Schulranzen zurück. Sie zog sich ihre Jacke an, ohne sich von mir helfen zu lassen, und wich meinem Blick aus, als sie das Haus verließ. Immerhin rief sie mir einen Abschiedsgruß zu.
Ich starrte ihr verwirrt nach, musste mich plötzlich an der Wand abstützen.
Was passierte mit mir … mit uns? Was passierte mit Aurora?
Mir fiel es immer schwerer, ruhig zu atmen. Hysterie schnürte mir die Kehle zu. Ich stellte die Tasse ab, ehe ich den Kaffee verschütten konnte, und begann auf und ab zu gehen.
Ruhig … ruhig! Ich musste jetzt ruhig werden! Erst dann würde es mir möglich sein, einen vernünftigen Gedanken zu fassen, zu überlegen, warum Nathan das Haus verlassen hatte.
Zunächst ging ich wie ein gefangenes Raubtier durch die Küche, den Flur und das Wohnzimmer – später ließ ich mich auf dem Küchenhocker nieder und saß dort ganz steif, so als würde jede Bewegung das Gefühl von Bedrohung noch vergrößern. Mein
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