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Der Fluch der Abendröte. Roman

Der Fluch der Abendröte. Roman

Titel: Der Fluch der Abendröte. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Cohn
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zu spielen begonnen hatte.
    »Marian …«
    Da ich noch im Türrahmen stand, konnte ich seine Hände nicht sehen, die flink über die Tasten sausten, konnte nur hören, dass er das Gleiche spielte, wie dazumal beim Schulfest – nicht etwa das Stück von Eric Satie, das wir einstudiert hatten, sondern immer wieder dieselben Töne: E , G , H . Erst spielte er sie einzeln, dann als Tonleiter. Er hielt sein Gesicht gesenkt, Regenwasser tropfte auf die Tasten.
    Irgendwann hörte er mit dem Spiel auf, hob seinen Blick, starrte mich halb erwartungsvoll, halb verzweifelt an.
    »Was willst du mir damit nur sagen?«
    Er schüttelte den Kopf, der Ausdruck von Verzweiflung verstärkte sich. Wenigstens waren seine Lippen nicht mehr so blau. Wieder beugte er sich über das Klavier und wieder spielte er Tonleitern – nur, dass es diesmal nicht E -, G - und H -Dur, sondern f- und a-Moll waren.
    Ich trat zu ihm, legte meine Hand auf seine Schultern und spürte, wie er zusammenzuckte. Augenblicklich hörte er zu spielen auf.
    »Marian …«, ich versuchte sanft zu sprechen und meine Erregung zu unterdrücken. »Ich weiß nicht, was du mir sagen willst. Aber … aber hat es mit Nathan zu tun? Oder mit Aurora?«
    Nun sah er aus, als würde er gleich zu weinen beginnen. Seine Kopf bewegte sich, aber ich war mir nicht sicher, ob er nickte oder ihn schüttelte.
    »Marian, ich bitte dich, du musst es mir sagen … und wenn du es nicht sagen kannst, dann musst du es wenigstens aufschreiben!«
    Ich eilte zum Schreibtisch, suchte einen Zettel und einen Stift. Als ich zurück zu Marians ans Klavier trat, hatte er seine Hände sinken lassen.
    »Bitte schreib es mir auf!«
    Er reagierte nicht. Er ließ seinen Kopf so tief hängen, dass er fast die Tasten berührte. Immer noch tropfte es nass von seinen Haaren, und seine Schultern bebten vor unterdrücktem Zittern.
    »Marian, bitte! Schreib es mir auf!«
    Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit hob er den Kopf, aber seine Hände blieben schlaff hängen. Sein Blick war nicht mehr ganz so verzweifelt, eher resigniert. Er kaute auf seinen Lippen, und dann schien er Worte zu formen. Ich war mir nicht sicher, was sie bedeuteten. Vielleicht: Ich kann nicht. Vielleicht aber auch: Ich
darf
nicht.
     
    Ich musste mich beherrschen, um ihn nicht noch weiter zu bedrängen. Am liebsten hätte ich ihn an den Schultern gepackt, ihn so lange geschüttelt, bis er endlich aufschrieb, was er wusste. Aber mir war bewusst, dass er ein zutiefst verstörtes Kind war und ich ihm nicht weiter zusetzen durfte.
    »Ich … ich werde deine Großmutter anrufen«, verkündete ich schließlich.
    Marian nickte weder, noch schüttelte er den Kopf. Er erhob sich vom Klavierhocker; sein Blick war mit einenmal so leer, als würde seine Hinrichtung bevorstehen – und er keine Begnadigung mehr erhoffen konnte. Ich hob die Hand, wollte ihm über den Kopf streicheln, aber hielt mich dann doch zurück – nicht sicher, wie er meine Berührung auffassen würde: als Trost oder als Qual. Auf dem Weg nach unten kam uns Aurora entgegen, blickte mich fragend an, sagte aber nichts. Sie reichte Marian wortlos einen Pulli, und er nahm ihn, krampfte seine Hand darum, aber zog ihn nicht an. Ich entschied, ihn auch dazu nicht zu drängen, lief stattdessen zum Telefon und betete, dass ich Susanna Orqual erreichen würde.
    Es läutete. Fünfmal, sechsmal, siebenmal.
    Bitte, gehen Sie ran!, flehte ich im Stillen.
    Marian war im Türrahmen stehen geblieben, Aurora auch. Er hatte den Pulli immer noch nicht angezogen, ihn aber an seine Brust gedrückt und sein Gesicht darin versteckt.
    Es läutete zum achten Mal, zum neunten Mal. Dann endlich knackste es in der Leitung. Jemand meldete sich – allerdings nicht mit einem Namen oder einem Hallo!, sondern nur mit einem heiseren, erstickten Keuchen. Es klang, als würde jemand ein Weinen unterdrücken. Oder ein Lachen.
    »Frau Orqual?«
    Das Keuchen verstummte. Wer auch immer am anderen Ende der Leitung abgehoben hatte – es schien, als hätte er nun die Luft angehalten.
    »Frau Orqual, sind Sie das?«
    Ich hörte das Pochen meines Herzens, den eigenen unruhigen Atem – sonst nichts. Marian presste sich an den Türrahmen.
    »Frau …«, setzte ich zum dritten Mal an, und diesmal antwortete mir ein noch lauteres Keuchen. Es klang nicht länger wie ein Weinen oder Lachen, eher wie ein Husten. Und schließlich war da eine Stimme zu hören, hoch und weiblich. »Ja?«
    »Frau Orqual? Marian ist bei mir!

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