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Der Fluch der Abendröte. Roman

Der Fluch der Abendröte. Roman

Titel: Der Fluch der Abendröte. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Cohn
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aus dem Fenster steckte, wurde ich triefnass. Fast waagerecht fiel der Regen in mein Gesicht. Das Wasser lief in meinen Nacken, floss von dort unter mein T-Shirt und dann kalt über meinen Rücken. Immer heftiger begann der Sturm zu toben, riss mir einen der Läden mehrmals aus der Hand. Doch das Krachen, als er gegen die Hauswand geschleudert wurde, war nicht das Geräusch, das mich am meisten erschreckte. Am meisten erschreckten mich … die Schritte.
    Ja, da war jemand … da lief jemand.
    Ich blickte nach rechts und links, aber nahm nichts anderes wahr als Schwärze und Nässe. »Hallo?«, rief ich schwach. Hastig schloss ich den Laden vom nunmehr dritten Fenster, doch auch als das endlich getan war, fühlte ich mich immer noch beobachtet.
    Ich wischte mir die feuchten Haare aus dem Gesicht, trat dann zur Balkontür, um hier zumindest den Vorhang zuzuziehen. Als es blitzte, war das Licht nicht ganz so grell wie zuvor. Kaum eine Sekunde lang wurde das Bild vor mir erhellt, doch diese Sekunde reichte, um es wahrzunehmen – dieses Gesicht, das wie aus dem Nichts kam und sich so fest an das Glas der Balkontür presste, dass Stirn, Kinn und Nase plattgedrückt wurden. Die Augen schienen förmlich aus den Höhlen zu quellen. Sie waren nicht schwarz und wirkten dennoch wie dunkle Löcher, denn das Gesicht war kalkweiß.

IV.
    Ich zuckte zurück, als hätte ich einen Stromschlag erhalten. Ehe ich dieses bleiche Gesicht erkennen konnte, wurde es wieder stockdunkel. Es war nicht einmal auszumachen, wie groß die Gestalt war, die vor der Türe stand.
    Das Gesicht hatte fremd gewirkt. Aber vielleicht lag das nur daran, dass es sich so stark ans Glas gepresst hatte und so die Züge verzerrt waren. Ein neuerlicher Blitz durchzuckte den Himmel, diesmal so lang und heftig, als wollte er die schwarze Wolkendecke nicht einfach nur entzweireißen, sondern geradezu sprengen. Ich starrte angespannt auf die Tür, wo jetzt aber niemand mehr zu sehen war. Ich atmete tief durch, ging dann entschlossen auf die Tür zu, griff nach der Klinke – noch nicht sicher, ob ich es wagen würde, sie aufzureißen. Da hörte ich plötzlich ein Geräusch – ein Klopfen, zaghaft zunächst, nicht lauter als das Trommeln der Regentropfen, dann immer fordernder. Beim nächsten Blitz erkannte ich die Faust, die gegen die Glasscheibe schlug – eine kleine Faust, die eines Kindes.
    Mein Herz pochte heftig – erst vor Schreck, nun vor Erleichterung. Ich riss die Tür auf.
    »Marian!«, schrie ich.
    Dieses unheimliche, weiße Gesicht war das des Jungen gewesen.
    »Um Himmels willen, Marian, was machst du hier?«
    Der Junge war für sein Alter außergewöhnlich zart, doch nie war er mir so verloren erschienen wie in diesem Augenblick, als er durch und durch durchnässt in meinem Garten stand. Er wagte nicht, mich anzuschauen, sondern stand völlig steif vor mir. Als ich ihn packte und ins Trockene zog, leistete er keinen Widerstand.
    »Marian!«, rief ich wieder fassungslos.
    Ich erinnerte mich daran, was mir Susanna erst gestern gesagt hatte – dass es ihm nicht gutginge und er darum bis auf weiteres nicht zum Klavierunterricht kommen könnte. Nun, krank sah er nicht aus, aber erschrocken und starr vor Angst. Warum war er nur hierhergekommen? Während des Gewitters?
    Zumindest trug er feste Schuhe und eine Jacke. Ich zog sie ihm vom Leib und stellte fest, dass das T-Shirt darunter halbwegs trocken war. Von seinen Haaren hingegen tropfte es kalt. Er musste sich schon eine Weile da draußen herumgetrieben haben, denn seine Lippen waren bläulich verfärbt. Verwirrt musterte ich ihn eine Weile, doch auch als ich wieder und wieder seinen Namen sagte und fragte, warum er hierhergekommen war, kam keine Reaktion. Erst als ich mich umdrehen wollte, um aus dem Bad ein Handtuch zu holen, ging ein Ruck durch seine Gestalt. Er öffnete den Mund, formte ein Wort.
    Ich schüttelte den Kopf. »Ich verstehe dich doch nicht, Marian. Ich verstehe dich nicht!«
    Wieder ging ein Ruck durch seinen Körper, dann stürzte er in Windeseile an mir vorbei. Aurora, die an der Türschwelle zum Wohnzimmer stand, schien er gar nicht zu bemerken. Sie wich vor ihm zurück, sah mich verwirrt an. Erst jetzt ging mir auf, dass der Stromausfall vorbei war und wir wieder Licht hatten. Auch das Donnergrollen war nicht mehr ganz so laut. Ich folgte Marian in den Flur, sah, wie er hoch zum Klavierzimmer lief, und hatte den Raum noch nicht betreten, als er das Instrument schon geöffnet und

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