Der Fluch der Abendröte. Roman
ich nicht deuten konnte. Selbstverachtung? Trauer? Oder einfach nur Müdigkeit?
»Aber es funktioniert nicht«, fuhr er fort, »da ist nichts … einfach gar nichts …« Er schlug sich auf die Brust und erzeugte damit einen hohlen Klang, der mir durch Mark und Bein ging. »Du weißt, wir haben blaues Blut … und mein Herz … das ist auch nichts weiter als ein kalter, blauer Klumpen.«
Er zuckte mit den Schultern, wandte sich ab, ging unendlich langsam davon, so steif, als wären seine Glieder gefroren. »Nein, ich fühle auch weiterhin nichts. Es ist nicht einmal mehr komisch, dich leiden zu sehen.«
Seine körperliche Nähe hatte mich eingeschüchtert, und dass er ging, erleichterte mich zunächst. Doch dann lief ich ihm nach und stellte mich ihm in den Weg.
»Bitte …«, setzte ich an.
Das schlichte Wort schien meine Kehle zu zerkratzen. Vor wenigen Tagen hatte ich noch in diesem Garten mit Nathan gesessen und wir hatten uns gegenseitig unsere Liebe beteuert – jetzt flehte ich ausgerechnet Caspar von Kranichstein, den alten Erzfeind, um Hilfe an.
»Bitte …«, wiederholte ich dennoch, »ich weiß nicht, an wen ich mich wenden soll. Es ist niemand hier, den ich fragen kann, niemand, der mir helfen würde, niemand, der …«
Sein Blick schweifte über meine Gestalt – eher bedauernd als anzüglich. »Vorhin hattest du doch noch Besuch … von diesem Mann. Weiß Nathan eigentlich davon?« Er schien kurz nachzudenken. »Aber richtig, ich vergaß, Nathan ist ja fort, also kann es ihm egal sein, mit wem du dir die Zeit vertreibst! Und Nathan ist auch einer der Guten. Er würde dich nicht töten, wenn du ihn hintergehst und betrügst – so wie ich dich getötet hätte … früher … vor Ewigkeiten. Als ich dich noch geliebt habe …«
»Lukas Arndt ist Mias Vater. Sie wurde mit Aurora entführt, doch er kann mir nicht helfen …«
»Wie auch?«, unterbrach er mich. »Er ist nur ein Mensch. Einer dieser kostbaren Menschen, die nichts können und nichts wissen und die trotzdem beschützt werden müssen vor uns grässlichen Schlangensöhnen, nicht wahr?«
Seine Stimme klang nun nicht mehr gleichgültig – Trotz lag darin und ein wenig Verachtung. Noch überwältigten ihn diese Gefühle nicht, schienen nur langsam, allmählich in ihm zu erwachen. Und doch waren sie ein unsägliches Zeichen dafür, dass er innerlich nicht ganz so tot war, wie er mir hatte weismachen wollen. Genau das konnte ich nutzen. Ich trat noch einen Schritt näher an ihn heran.
»Es stimmt nicht, dass du nichts fühlst«, sagte ich. »Du bist verbittert, du verachtest die Menschen genauso sehr wie früher. Und du hasst die Wächter.«
»So, so«, äffte er meinen aufgeregten Tonfall nach. »Tue ich das?«
Er hob die Augenbrauen, musterte mich abschätzig. Kurz hatte es den Anschein, als würde er sich von mir abwenden wollen, um einfach wegzugehen, aber dann blieb er abwartend stehen, wohl doch neugierig, was ich darauf sagen würde. Mir kamen keine Worte in den Sinn, die ich entgegnen könnte, aber etwas anderes. Ehe ich so recht wusste, was ich überhaupt tat, hob ich meine Hand und legte sie auf seine Brust. Es fiel mir schwer, nicht sofort zurückzuzucken, aber ich biss die Zähne zusammen und zwang mich dazu, so zu verharren. Sein Herz sei ein blauer, kalter Klumpen, hatte er gesagt … und ja, genau das glaubte ich auch zu fühlen: einen Klumpen mit einer leblosen Hülle darum … einer
fast
leblosen Hülle.
»Sophie …«
Dieses Raunen war ganz schwach – und so vertraut. Ebenso leise hatte er damals vor fünf Jahren mit mir geredet, als er mich entführt, als er neben mir gesessen, mich berührt hatte, mit diesen langen, unheimlichen Spinnenhänden.
Kalt … er war so kalt … aber vielleicht war das nur eine Täuschung. Vielleicht stieg die Kälte nur vom Boden auf. Der Raureif hatte sich aufgelöst, aber das Grün der Wiesen wirkte farblos, fast schwarz. Eigentlich musste Caspar das gefallen. Schwarz und Weiß waren ihm doch die liebsten Farben. Wobei er gestern gesagt hatte, dass alles im Grau zerliefe …
»Es stimmt nicht, dass du nichts fühlst«, wiederholte ich. »Du hast mich geliebt. Und tief in deinem Inneren tust du es noch immer.«
Ich hielt weiterhin meine Hand auf seine Brust gepresst. Immer noch gelang es mir, meinen Widerwillen zu unterdrücken. Doch nun war er es, der zurückwich – so ruckartig war bislang keine seiner Bewegungen ausgefallen. Er schlug meine Hand weg, und kurz
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