Der Fluch der Abendröte. Roman
beinahe zu einem Kuss geführt hatte. Doch als ich ruckartig hochfuhr, zerplatzte dieses Gefühl in mir wie eine Seifenblase.
»Ich … ich habe geträumt …«, stammelte ich. Ich versuchte, nach den wirren Bildern zu greifen, die irgendwo im Hinterkopf festzusitzen schienen, doch es war, als würden sie wie Asche zerfallen, ehe sie sich klärten. Hatte ich wieder vom Kerker geträumt? Oder vielmehr von meiner Begegnung mit Caspar und seinen wirren Worten, wonach Schwarz und Weiß ihre Schärfe verloren und alles zu einem Grau wurde?
Was immer ich geträumt hatte und wie verwirrend es gewesen war – eines wurde mir plötzlich ganz klar: Auch wenn Caspar nicht an Auroras Entführung beteiligt war – es gab keinen anderen, der mir jetzt noch helfen konnte. Gestern war ich einfach nur erleichtert gewesen, heimzukommen und von Lukas umsorgt zu werden – heute Morgen begriff ich, dass es wohl ein Fehler gewesen war, so überstürzt vor Caspar zu fliehen.
»Willst du etwas frühstücken?«
»Nein … nein … ich … muss …«
Ich hielt inne. Es auszusprechen war immer noch schwer – aber zumindest denken konnte ich es: Ich muss noch einmal zu Caspar. Ich muss mit ihm sprechen. Und diesmal werde ich auf seinen Anblick … seinen Zustand besser vorbereitet sein.
»Was musst du?«, fragte Lukas leise.
Ich blickte ihn ratlos an und wusste nicht, wie ich erklären sollte, warum ich schon wieder fortwollte. Mein Blick richtete sich auf das Telefon.
»Immer noch keine Nachricht …«, murmelte er, und jetzt erst sah ich, dass seine Hände die Stuhllehne umkrampften. Seine Anspannung schien fast unerträglich zu sein.
»Vielleicht«, setzte ich zögernd an, »vielleicht sollten wir doch die Polizei informieren …«
Noch während ich es aussprach, wusste ich, dass ich einen großen Fehler machte. Ihn zur Polizei zu schicken erschien mir zwar das beste Mittel, um ihn abzulenken. Doch brachte ich damit nicht unschuldige Menschen in höchste Gefahr? Hatten hier in meiner Villa Nephilim nicht schon einmal ein schreckliches Blutbad unter Polizisten angerichtet?
Wenn Aurora in die Hände von Nephilim geraten war, so würde die Polizei vergeblich nach Spuren des Verbrechens suchen, würde sie den Entführern immer um viele Schritte hinterherhinken und sie unmöglich dingfest machen können.
Lukas griff zum Telefon. »Nein!«, rief ich hastig. Ich sprang auf, wollte seinen Arm eigentlich am Ellbogen packen und ihn zurückziehen, aber berührte stattdessen seine Hand. Prompt schlossen sich seine Finger um meine.
Männerhände … nicht Nephilimhände … schwieliger und rauer als die von Nathan …
Nathans Händen sah man nicht an, wie oft sie das Schwert geschwungen, erbittert gekämpft, sogar getötet hatten. Lukas’ Händen hingegen sah man auf den ersten Blick an, dass sie einem Mann gehörten, der zupackte. Hastig zog ich meine Hand zurück.
»Vielleicht … vielleicht solltest du aufs Revier fahren …«, schlug ich vor. »Und ich warte hier, falls sich in der Zwischenzeit jemand meldet.«
Sein Gesichtsausdruck war zweifelnd, als sein Blick über mich glitt. Ich versuchte überzeugt zu wirken, entschlossen und gefestigt. Schließlich nickte er. »Ich habe mein Handy bei mir«, erklärte er und stand auf. »Melde dich, wenn jemand anruft.«
Ich blieb auf dem Sofa sitzen, bis er seine Jacke angezogen hatte und die Tür ins Schloss gefallen war. Ich hörte seine Schritte auf dem Kies, dann wie eine Autotür zufiel und der Motor ansprang. »Verdammt!«, entfuhr es mir, und ich schlug mir verärgert vor die Stirn. Bestrebt, ihn fortzuschicken, hatte ich nicht daran gedacht, dass mein Auto kaputt war und ich nun unmöglich zur Seilbahnstation fahren konnte.
Jetzt war es zu spät, ihn zurückzuholen, und obwohl ich nicht wusste, was ich nun tun sollte, zog ich mich rasch an. Meine Hose von gestern war noch nass, also schlüpfte ich in eine neue Jeans und in einen warmen Pulli, suchte im Schuhschrank nach festen Sportschuhen und bei den Wintersachen nach einer dickeren Jacke. Vor dem Vorzimmerspiegel band ich mir die Haare zusammen – und erschrak, als ich mich dabei betrachtete. Mein Gesicht wirkte blass, verschlafen; meine Augen jedoch waren weit aufgerissen, spiegelten meine Ängste – und mein schlechtes Gewissen. Aurora war in der Hand von Entführern … Nathan spurlos verschwunden … und ich hatte nichts Besseres zu tun, als beinahe unseren Nachbarn zu küssen und mich an ihn zu klammern,
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