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Der Fluch der Abendröte. Roman

Der Fluch der Abendröte. Roman

Titel: Der Fluch der Abendröte. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Cohn
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können, wie sie damit umgehen sollte.
    »Aber wie?«, hatte Aurora gefragt. »Wie soll ich dieser Macht etwas befehlen?«
    »Du darfst deinen spontanen Regungen nicht einfach folgen. Ich weiß, so vieles zerrt an dir – aber du musst versuchen, es irgendwie zu ignorieren, und stattdessen überlegen, was du willst. Das ist das Einzige, was zählt. Setz dir ein Ziel und konzentriere dich darauf. Jene Fähigkeiten, die dir helfen, das Ziel zu erreichen, musst du nutzen. Aber die Fähigkeiten, die dir dabei im Weg stehen, musst du unterdrücken. Überleg dir nicht, was du alles kannst! Überleg dir vielmehr, was du willst!«
    Überleg dir, was du willst … Konzentriere dich darauf …
    Die Worte echoten in Aurora. Sie wusste, dass Cara recht hatte, aber sie hatte keine Ahnung, wie sie ihren Ratschlag befolgen sollte. Ihre Lippen formten immer noch unwillkürlich Worte, die sie gar nicht sagen wollte. Ihre Füße liefen immer noch unruhig durch das Gefängnis, ihr Körper wurde von einer Wand zur nächsten geschleudert.
    Ich kann doch nichts dagegen tun!, dachte Aurora verzweifelt – doch dann ging ihr auf, dass das nicht stimmte. Eines konnte sie durchaus: Sie konnte denken.
    Überleg dir, was du willst …
    Ja, sie konnte denken, sie konnte sich überlegen, was sie wollte. Und sie brauchte nicht lange dafür.
    Ich will, dass es aufhört, dachte sie.
    Wieder gab Cara ihr eine Antwort: »Das ist noch zu wenig. Du brauchst ein klares, konkretes Ziel. Es hilft nicht, wenn du eine Sache nur verneinst.«
    Etwas in Aurora verkrampfte sich – etwas Dunkles, Absolutes, Starkes. Gleich würde es sich nicht nur damit begnügen, sie durch den Raum zu jagen, gleich würde es sie wieder zu Boden werfen, ihren Körper verbiegen …
    Aber sie bemühte sich, es zu ignorieren, beschwor stattdessen Caras eindringliche Worte herauf.
    Überleg dir, was du willst …
    Ich will meine Schritte selber lenken können!
    Gut. Was brauchst du dafür?
    Körperbeherrschung …, dachte Aurora. Ich will, dass meine Glieder tun, was ich ihnen sage … ich will nicht so schnell gehen, ich will nicht springen, ich will stehen bleiben …
    Die Krämpfe in ihrem Magen wurden schlimmer, das Kribbeln auf ihrer Haut verstärkte sich. Kurz wurde es so unerträglich, dass sie glaubte, die Haut würde zerreißen, würde ihr nacktes Fleisch bloßlegen. Doch dann fühlte sie plötzlich gar nichts mehr. Es war, als hätte eine dünne Schicht aus Stein ihren Leib überzogen und ihn völlig erstarren lassen. Sie blieb so abrupt stehen, dass sie beinahe über die eigenen Füße gefallen wäre. Aber immerhin – sie war stehen geblieben.
    Ich will, dass meine Glieder tun, was ich ihnen sage …
    Sie wünschte es sich so sehr, und dieser Wunsch bekam plötzlich Gewicht – Gewicht, das sie der fremden Macht entgegenschleudern konnte wie eine Waffe.
    Aurora lächelte, als ihr aufging, dass es funktioniert hatte, und ihr war, als würde ihr auch Cara zulächeln.
    Ich will selbst bestimmen, wann ich in fremden Sprachen rede, dachte sie nun. Ich will selbst bestimmen, wann ich mein Wissen verkünde.
    Diesmal überzog keine dünne Steinschicht ihre Haut. Vielmehr stellte sie sich vor, dass ihre Gedanken solche kleinen Steine wären. Sie musste nur die Hand heben, sie werfen, und wenn auch ihr Ziel, diese fremde Macht, unsichtbar war, so hatte sie doch das Gefühl, sie würde sie treffen.
    Ihre Lippen verschlossen sich. Keine weiteren Worte drangen aus ihr hervor.
    Und nun?, fragte Cara. Was willst du noch?
    Aurora atmete tief durch. Nun, da sie ruhig dastand, konnte sie Mia eingehend betrachten. Diese hockte in der Ecke, gekrümmt, das Gesicht immer noch kalkweiß.
    Diesmal sprach Aurora ihre Worte laut aus: »Ich will hier raus. Ich will wieder nach Hause. Gemeinsam mit Mia.«
    Als ich erwachte, war es bereits kurz vor Mittag. Erst im Morgengrauen war ich eingeschlafen – in Lukas’ Armen, meinen Kopf auf seiner Brust. Gegen Morgen musste er sich vorsichtig von mir gelöst haben, ohne mich aufzuwecken, denn nun saß er gegenüber der Couch auf einem Stuhl und betrachtete mich. Er war frisch rasiert und gekämmt und hatte ein neues Pflaster auf seine Wunde geklebt, doch sein Blick war müde.
    »Guten Morgen!«
    Ganz kurz, für die Dauer von nur wenigen Sekunden, fehlte den Erinnerungen an das gestrige Grauen die Macht; ein wohliges Gefühl stieg in mir hoch, von der Gewissheit getragen, nicht allein zu sein – und von der Vertrautheit zwischen uns, die

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