Der Fluch der Abendröte. Roman
als gäbe es nur uns beide!
Ich schüttelte den Kopf, konnte diesem unangenehmen Gefühl, meine Liebsten verraten zu haben, nicht nachgeben – nicht jetzt. Ich trat ins Freie. Der Nebel von gestern hatte sich aufgelöst, nur über dem See hing noch der Morgendunst. Auf der Wiese hingegen funkelte Raureif in der Sonne. Sonderlich stark schien sie nicht. Sie blendete, aber wärmte nicht.
Die Orquals, ging mir durch den Kopf … ich könnte zu Fuß zu Susanna gehen, ihr Auto ausleihen und damit zu Caspar fahren. Plötzlich stieg ein Bild vor meinem geistigen Auge auf, vage zunächst, so dass ich dachte, es entstamme einem der finsteren Träume, doch dann wurde es schärfer … es war die Erinnerung an den bleichen Marian, wie er während des Gewitters um das Haus geschlichen war und sein Gesicht an die Fensterscheibe gepresst hatte.
GEH !, hatte er mir sagen wollen. GEH !
Warum hatte er mich gewarnt? Was wusste er?
Und hatte dieses Geh!, wie mir nun aufging, vielleicht gar nicht mir gegolten, sondern Aurora, weil sie, nicht ich in höchster Gefahr war?
Ich konnte nicht länger darüber nachdenken. Als ich meinen Kopf hob, bemerkte ich den Schatten einer großgewachsenen, schmalen Gestalt. Ich trat einen Schritt vor, sah, wer eigenmächtig das Tor geöffnet hatte, nun im Garten stand, jedoch nicht weiter auf das Haus zuging – und wusste, dass es nicht mehr notwendig war, Susanna Orquals Auto auszuleihen.
VII.
Caspars Stirn war leicht gerunzelt. Er blickte starr in den Garten, aber schien ihn nicht wirklich wahrzunehmen; seine Haare standen nicht mehr wirr vom Kopf ab wie gestern, sondern waren streng zurückgekämmt wie damals. Obwohl er so verwirrt, fast hilflos wirkte, als sei er gerade aus einem langen Traum erwacht, weckte sein Anblick die Erinnerung an den alten Caspar, der damals fast an der gleichen Stelle gestanden und Auroras Erbe geweckt hatte. Vorsichtig hatte er über ihre Haare gestreichelt, hatte sie die Göttin der Morgenröte genannt – und einen schlimmen Krampfanfall bei ihr ausgelöst.
Ich trat näher. Es war ein Schock, ihn zu sehen – und dennoch auch eine Erleichterung. Wenn Aurora in seiner Gewalt wäre, wenn alles, was er mir gestern gesagt hätte, nur eine Lüge gewesen wäre – dann würde er nicht hier sein. Und wenn er es darauf abgesehen hätte, sich an mir zu rächen, dann hätte er mich gestern nicht gehen lassen. Er würde jetzt auch nicht starr an mir vorbeischauen, als gäbe es mich nicht.
»Wer hat sie?«, flüsterte ich. »Wer?«
Meine Worte schienen ihn nicht zu erreichen. »Es sieht beinahe so aus wie früher«, setzte er gedehnt an. »So ist das auf dieser Welt. Im Grunde ändert sich nichts. Das Leben ist eine Endlosschleife. Jemand, der so lange gelebt hat wie ich, weiß das noch besser als das Menschenpack. Es dreht sich alles im Kreis. Es gibt nichts Neues unter der Sonne.«
Ich war langsam auf ihn zugegangen, hatte ihn nun erreicht. Er musste schon lange hier stehen, denn sein Haar war so hauchdünn von Raureif überzogen wie die Wiesen. Die vermeintlich akkurate Frisur war also Produkt des Zufalls – nicht seines Willens, sich wieder um sein Äußeres zu kümmern und sich zu kämmen.
»Warum bist du hierhergekommen?«, fragte ich.
»Du hast mich zuerst gesucht.«
»Aber jetzt bist du hier.«
»Ist das nicht köstlich?«
Abrupt löste er sich aus der Starre, warf den Kopf in den Nacken und begann zu lachen. Es war ein merkwürdiger, erschreckender Ton – er hatte nichts mit diesem bedrohlichen Zischeln von einst gemein, nichts von diesem Scheppern und Klirren, als würde Porzellan zerschlagen werden. Es war eher der erbärmliche Laut einer verlorenen Seele – wenn er eine solche denn überhaupt je gehabt hatte.
So plötzlich, wie er damit begonnen hatte, hörte er auch wieder zu lachen auf. Der schrille Laut schien förmlich in seiner Kehle stecken zu bleiben. Er senkte seinen Kopf wieder, fixierte mich nun mit den leeren, schwarzen Augen. »Es ist so ungewohnt zu lachen«, begann er beinahe entschuldigend und mit einem Ausdruck ehrlichen Erstaunens. »Gestern, als du bei mir warst, habe ich zum ersten mal seit Jahren gelacht. Ich kann mich nicht erinnern, wann mich das letzte Mal etwas so erheitert hat wie dein Besuch. Und ich dachte …«, er zögerte kurz, »ich dachte: Wenn du mich zum Lachen bringst, dann kannst du vielleicht noch mehr. Mir nämlich die Gefühle zurückgeben, die mir Cara gestohlen hat.« Etwas blitzte in seinen Augen auf, das
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