Der Fluch der Druidin
dass Sumelis deine Tochter ist, als er sie entführen ließ?«
»Wir wissen nicht sicher, ob die Entführung überhaupt Boiorix’ Werk war.«
»Was, wenn doch? Was, wenn das der eigentliche Grund ist, weshalb er sie entführen ließ?«
»Daran kann ich nicht glauben. Was wir erfahren haben, klingt so, als ginge es um eine Zauberin, um deine und Sumelis’ Gabe. Um keltische Magie, die die Kimbern sich zunutze machen wollen. Darauf sollten wir hoffen. Dann wird Sumelis auch gut behandelt werden.«
Talia seufzte. Sie wusste nicht, wie oft sie dieses Gespräch während ihrer Reise bereits geführt hatten, dabei erfüllte es diesmal sogar einen Zweck: Es lenkte sie von der Kälte ab und hielt die nagende Erschöpfung auf Abstand.
»Ich glaube, ich spüre meine Zehen nicht mehr«, bemerkte sie.
Sofort wechselte Atharics Gesichtsausdruck von Nachdenklichkeit zu Sorge. »Wir gehen weiter!«, entschied er und stand auf. »Die Sicht wird besser, es schneit schon weniger.«
Atharic hatte recht: Die Sicht wurde tatsächlich besser, kurz darauf hörte es sogar ganz auf zu schneien. Allerdings hatten sie den von Steinmarkierungen gekennzeichneten Weg verloren, daher mussten sie sich ihren eigenen Pfad durch die Felsen suchen. Entlang sumpfiger, von rotspitzigem Gras bewachsener Senken am Rande winziger Seen und vorbei an niedrigen Krummholzkiefern, deren grüne Nadeln sich an graues Gestein schmiegten. Der Untergrund war glatt, daher kamen sie nur äußerst langsam voran und rutschten häufig aus. Talias Knie begann zu stechen, woraufhin ihr Atharic seinen unbespannten Bogen gab, damit sie diesen als zusätzliche Stütze verwenden konnte. Um den Bogen mit ihren vor Kälte steifen Fingern überhaupt halten zu können, musste Talia erst einen Fäustling aus ihrer Ersatztunika und einem Lederband basteln, und selbst dann wollte die Wärme nicht in ihre Fingerspitzen zurückfließen.
Schließlich erreichten sie die andere Seite des Passes. Unter ihnen zerfaserten die Wolken und gaben den Blick frei in Richtung eines Rückens aus kleineren bewaldeten Kuppen, der die Aussicht in das Tal vor ihnen begrenzte. Vorsichtig begannen sie den Abstieg.
Es geschah kurz nachdem sie das letzte Stück verschneiten Fels hinter sich gebracht hatten: Talia trat auf einen losen Stein, der unter ihrem Gewicht nachgab und zur Seite kippte. Sie knickte um, spürte den Schmerz in ihrem Knöchel, streckte sogar noch den Arm aus, um sich abzufangen, aber es war bereits zu spät. Ihr Kopf schlug gegen einen Felsen, dann – Schwärze.
Die Ankunft der Händler aus Aquileia war den Kimbern zwei Tage vorher angekündigt worden, daher hielten Kinder bereits ab dem Morgengrauen ungeduldig Ausschau nach der Reisegesellschaft. Eine Gruppe reicher Händler war etwas ganz anderes als die Abgesandten heimischer Städte und Dörfer, die oftmals geschickt wurden, um mit den Kimbern zu verhandeln, vor allem, wenn sie Waren aus einer römischen Stadt wie Aquileia brachten. Es war ein Ereignis, das Gesprächsstoff für den ganzen Stamm versprach. Was würden die Fürsten und reichen Krieger kaufen? Welchen Schmuck würden Boiorix’ Töchter danach tragen, welche Stoffe? Erlesener Wein würde trockene Kehlen benetzen, nicht das halbsaure Zeug, das ihnen von Mediolanums Stadtherren und den Fürsten der Insubrer als Tribut geschickt worden war. Welche ungewohnten Speisen würden über die Zungen des Nordvolks gehen?
Die Händler näherten sich von Süden her dem Lager, wo sie bereits von einer bunten Traube aus Fußvolk – Alte, Krieger, Frauen, Kinder – empfangen wurden. Für diese Leute war es die einzige Möglichkeit, einen Blick auf die Fremden zu erhaschen und deren Waren, wie sie hofften, aber selbst darin wurden sie enttäuscht. Was auch immer die Aquileienser in ihren über die festgetrampelte Erde holpernden Wagen mit sich führten, blieb gut verpackt unter dicken Planen und verborgen vor den gierigen Augen jener, die sich sowieso nichts davon leisten konnten. Der Trupp wurde obendrein von fünfzig Kämpfern begleitet, eine lächerliche Anzahl im Vergleich zu den tausendfach stärkeren Kimbern, doch die Männer schien das nicht zu schrecken. Sie schienen keinen Zweifel daran zu haben, dass sie als Händler freundlich von den barbarischen Nordmännern empfangen werden würden.
»Ein buntes Gemisch«, hörte Nando einen Mann in seinem Rücken sagen. »Veneter, Römer, sogar ein Grieche ist unter ihnen.«
Nando, dessen Sicht auf die Ankömmlinge
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