Der Fluch des Sündenbuchs: Historischer Roman (German Edition)
offener Straße. »Ich habe meinen guten Ruf längst verloren«, sagte sie entschuldigend, als sie wieder von ihm abließ und in das entrüstete Gesicht einer Frau sah, die sie mit strafenden Blicken musterte.
»Was für ein Glück«, sagte Assante.
Die nächsten Tage verbrachte Tica damit, ihre Brüder wiederzusehen und alte Bekannte zu treffen. Viele der Freunde aus Kindheitstagen lebten nicht mehr. Ticas beste Freundin wurde beim Überfall der Spanier getötet, andere wie sie selbst verschleppt. Ihre beiden älteren Brüder hatten überlebt, weil sie am Tag des Überfalls in einem benachbarten Dorf gewesen waren. Das Dorf lag im Westen, dort, wo die Berge so hoch waren, dass das ganze Jahr über Schnee die Gipfel bedeckte. In dieses Dorf, in dem Tica weitentfernte Verwandte hatte, wollte sie gemeinsam mit Assante gehen. Sie wusste, dass die Spanier den unwirtlichen Ort nicht aufsuchten, so wie der Zipa ihn immer gemieden hatte. Die Menschen dort konnten in Ruhe ihrer harten und beschwerlichen Arbeit nachgehen, ohne von gierigen Abgabeneintreibern belästigt zu werden. Der Weg war auch ihnen zu beschwerlich. Tica fragte Assante, ob er sich ein Leben in den kargen Bergen vorstellen könnte, und er antwortete so rasch und eindeutig, dass sie keine Zweifel an seiner Aufrichtigkeit hegte. Karges Ackerland, Kälte und harte Arbeit konnten ihn nicht schrecken. Selbst die glücklichsten Momente seines bisherigen Lebens waren nicht mit der Aussicht zu vergleichen, als freier Mann gemeinsam mit Tica eine Familie zu gründen.
Natürlich fragte Tica auch Conrad, ob er mit ihnen kommen wollte, aber er lehnte dankend ab.
»Ich werde eine Weile bei den Dominikanern bleiben, bevor ich eine weitere Entscheidung treffe«, sagte er. In den letzten Tagen hatte er die drei Männer kennengelernt und verstand nun, warum Ticas Mutter bereitwillig zum Christentum konvertiert war. Wenn alle Priester, Mönche und Nonnen dieser Welt ihren Glauben so ernst nehmen würden wie diese Männer, dann hätten niemals Menschen auf dem Scheiterhaufen brennen müssen. Conrad war von den Dominikanern ebenso beeindruckt wie von Pater Ignazio in Barinas. Diese Männer lebten vor, was Nächstenliebe bedeutete.
»Den Männern fehlt ein Arzt. Sie haben zwar Kenntnis in der Kräuterkunde, aber keiner der drei hat sich ernsthaft mit Chirurgie beschäftigt«, erklärte Conrad.
»Die wenigsten Menschen haben das, mein Freund«, erwiderte Assante und klopfte ihm auf die Schulter. Es war Zeit, Abschied zu nehmen, und weder Conrad noch Assante hatten Übung darin.
»Du wirst mir fehlen«, sagte Conrad.
»Du mir auch!«
»Falls es in den Bergen da oben doch zu kalt werden sollte oder jemand einen guten Arzt braucht, dann weißt du, wo du mich die nächsten Monate findest.«
Assante trat zu Conrad und umarmte ihn. Als er ihn wieder losließ, sagte er ernst: »Du hast mir den Glauben an die Menschlichkeit zurückgegeben. Tu mihi fidem humanitatis reddidisti!«, sagte er.
»Was für große, dramatische Worte!« Conrad verzog den Mund zu einem Grinsen.
»Wir sollten los!« Tica unterbrach die Abschiedsszene. Ihre Augen waren feucht.
»Pass gut auf meinen Freund auf!«
»Das werde ich«, sagte Tica, während Assante auf sein Lama stieg. Als er sich ein letztes Mal zu ihm umdrehte, sah Conrad, dass auch seine Augen feucht waren.
Zipaquirà,
Juni 1619
Conrad gewöhnte sich rasch an das Leben in dem Dorf. Die Nachricht, dass ein Arzt bei den Dominikanern wohnte, der seine Patienten behandelte, auch wenn sie nur wenig bezahlen konnten, sprach sich schnell herum. Schon bald kamen die Menschen aus den umliegenden Dörfern, um sich helfen zu lassen. Ihre Leiden waren vielfältig und reichten vom Durchfall bis zum offenen Schienbeinbruch. Conrad blieb kaum Zeit, über sein Leben und über die Pläne, die er einst gehabt hatte, nachzudenken. Hin und wieder tauchte Janas Bild vor seinem geistigen Auge auf, aber es wurde immer blasser. Mit jedem Tag fiel es ihm schwerer, sich an sie zu erinnern.
Ende Mai kamen zwei Nonnen gemeinsam mit einem schwachköpfigen Jungen ins Dorf. Die Nonnen stammten aus einem Kloster in Zipaquirà und baten die Dominikaner, den Jungen bei sich aufzunehmen.
»Es wäre einfach passender, wenn er hier leben könnte«, sagte die kleine, zierliche Äbtissin. Sie war eine resolute Frau, die die Tüchtigkeit und Ehrlichkeit des Jungen pries.
»Wir würden ihn bei uns behalten. Aber das Zusammenleben von einem jungen Mann und elf Frauen
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