Der Fluch des Sündenbuchs: Historischer Roman (German Edition)
es hatte wohl keinen Sinn, zu protestieren. Er nahm den Bogen Papier entgegen und rollte ihn auf. Als Kind hatte er gelernt, wie man Karten las. Danach hatte er dieses Wissen selten angewendet. Aber er konnte dem Geflecht aus Linien und Symbolen das Bild einer Landschaft entnehmen. Richard erkannte Berge, Flüsse, Wälder und kleine Siedlungen, auch wenn er keinerlei Ahnung hatte, wo auf der Welt sich diese Landschaft befand.
»Die Karte hilft Euch erst weiter, wenn Ihr nach Altamira de Càceres gekommen seid«, erklärte Raleigh. »Die Eingeborenen nennen die Stadt Barinas, ein Wort, das für einen heftigen Wind während der Regenzeit steht.«
Richard hatte beide Namen noch nie zuvor gehört. Er kannte einige Städte auf dem Kontinent wie Paris, Antwerpen oder Barcelona vom Hörensagen beziehungsweise aus dem Lateinunterricht, der allerdings viele Jahre zurücklag. Selbst war er noch nie weiter als bis nach Stirling gereist, wo seine Mutter vor einigen Jahren verstorben war. Richard hatte noch nie ein großes Schiff betreten, und er hatte den Großteil seines Lebens in London verbracht. Dort hatte er, nachdem er das bescheidene Erbe seines Vaters für dessen Beisetzung ausgegeben hatte, zuerst als Händler, dann als Koch, als Gehilfe eines Schmieds, als Schreiber und schließlich, mit seiner Eheschließung, als Besitzer eines kleinen Wollladens gearbeitet. Wie sollte er bis ans andere Ende der Welt gelangen und diese Stadt, die den Namen eines Windes trug, finden?
Aber für Raleigh, einen Mann, der viele Jahre seines Lebens auf See gewesen war, schien diese Reise eine Kleinigkeit zu sein.
»Was bedeuten all die kleinen roten Kreuze auf der Karte?«, wollte Richard wissen.
»Sie zeigen Euch gefährliche Stellen an, denen Ihr ausweichen solltet. Wasserfälle, steile Klippen, Felsvorsprünge, tiefe Gräben …«
»Die Karte ist von den Kreuzen übersät. Kann es sein, dass Ihr zu viele davon eingetragen habt?«, fragte Richard.
»Unsinn«, winkte Raleigh ab. »Ich habe mich auf die wichtigsten beschränkt.«
»Wie beruhigend«, meinte Richard, begann die Kreuze abzuzählen und hörte wieder damit auf, als er die Zahl dreißig erreicht hatte.
»Nutzt die wochenlange Überfahrt auf See und erlernt die spanische Sprache«, riet Raleigh. »Im südlichen Teil der Neuen Welt haben sich viele Spanier niedergelassen. Die Einheimischen haben in den letzten hundert Jahren die Sprache ihrer Eroberer übernommen.«
Richard wollte nicht Spanisch lernen, behielt es aber für sich. Er war sich nicht einmal sicher, ob er sich auf diese waghalsige Suche begeben wollte. Andererseits konnte er auf diese Weise vielleicht seiner Vergangenheit entfliehen. Er brauchte Geld, denn die Gläubiger saßen ihm im Nacken. Mit etwas Glück könnte diese Karte ihm einen Weg in ein besseres Leben zeigen.
»Wie viele Menschen wissen von der Existenz der Karte?«, fragte er.
»Mindestens zwei. Der Jesuit und jene Person, an die der Seemann die Karte verkauft hat.«
»Und was ist mit dem Seemann?«
»Wenn die Nachrichten meines Informanten stimmen, dann ist er tot.«
Richard unterließ es, nach dem Informanten zu fragen. Raleigh saß nicht grundlos im Gefängnis, er hatte zeit seines Lebens an den Fäden der Macht gezogen. Jetzt hatte er sich darin verstrickt. Stattdessen stellte Richard eine Frage, von der er die Antwort zu kennen glaubte: »Starb er eines natürlichen Todes?«
Raleigh schüttelte den Kopf: »Und ich fürchte, er ist nicht der Einzige, der sein Leben lassen musste, weil er im Besitz der Karte war. Wie gesagt, alle wollen den Schatz finden, und es muss Euch klar sein, dass die Suche gefährlich wird. Irgendjemand hält das Original in den Händen, und wer weiß, vielleicht gibt es mittlerweile Abschriften. Wer also am schnellsten ist, gewinnt. Wie bei einem Hunderennen.«
Tierrennen, bei denen man auf den Sieger setzen konnte, waren ein Gebiet, auf dem Richard sich auskannte. Was ihm nicht gefiel, war, dass er nun einer der Hunde sein sollte.
»Weiß Julia von unserem Gespräch?«
Raleigh schüttelte entschieden den Kopf: »Nein, und sie darf auch nie davon erfahren. Es wäre zu gefährlich.«
Richard lachte: »Wie stellt Ihr Euch das vor. Was soll ich Julia erzählen? Sie wird glauben, ich will sie verlassen.«
»Nicht, wenn Ihr Tom mitnehmt. Es wird Euch etwas einfallen. Lasst Eure Fantasie spielen.«
Richard war anderer Meinung. Er kannte Julia und wusste, dass er ihr nicht so leicht eine Lügengeschichte
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