Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
Erster Teil
Der Hafen
Während der Kran ihn auf das Schiff hievte, trudelte der Container, als schwimme er auf der Luft. Der Spreader, der ihn am Kran hält, konnte die Bewegung nicht stoppen. Die schlecht verriegelten Öffnungen sprangen plötzlich auf, und Dutzende von Körpern fielen heraus. Sie sahen aus wie Schaufensterpuppen. Doch beim Aufprall auf den Boden barsten die Köpfe, als wären es echte Schädel. Und es waren Schädel. Aus dem Container regnete es Männer und Frauen. Auch einige Kinder. Tot. Tiefgefroren, übereinandergepackt, hin eingeschichtet wie Heringe in die Dose. Die Chinesen, die ewig leben. Die Unsterblichen, die ihre Papiere vom einen zum anderen weiterreichen. Hier also waren sie gelandet. Die Leichen, über die wildesten Gerüchte umgingen, es hieß, sie würden in Restaurants verkocht, auf den Grundstücken um die Fabriken herum vergraben, in den Krater des Vesuv geworfen. Da waren sie. Zu Dutzenden purzelten sie aus dem Container, um den Hals Schildchen mit ihrem Namen. Alle hatten Geld beiseite gelegt, um sich in ihren Heimatorten in China begraben zu lassen. Ein Teil des Lohnes war einbehalten worden als Garantie für die Rückreise, als Tote. Ein Platz im Container und eine Grube in einem Fleckchen chinesischer Erde. Als der Kranfahrer aus dem Hafen mir die Sache erzählte, bedeckte er sein Gesicht mit den Händen und blickte mich durch die Fingerzwischenräume an. Als ob diese Maske der Hände ihm Mut mache, weiterzuerzählen. Er hatte die Leichen herausfallen sehen und nicht einmal Alarm schlagen oder jemanden benachrichtigen müssen. Kaum war der Container auf den Boden herabgelassen, tauchten wie aus dem Nichts Dutzende von Menschen auf, stapelten die Leichen wieder hinein und schwemmten die
Reste mit einem Wasserschlauch weg. So lief das. Der Kranfahrer konnte es selbst noch nicht fassen, hoffte, es sei nur eine Halluzination, wegen der vielen Überstunden. Er schloß die Fingerzwischenräume, bedeckte das ganze Gesicht mit den Händen und sprach weinerlich weiter, aber ich konnte ihn nicht mehr verstehen.
Alles nur Denkbare wird hier durchgeschleust. Durch den Hafen von Neapel. Stoff, Plastikteil, Spielzeug, Hammer, Schuh, Schraubenzieher, Bolzen, Videospiel, Jacke, Hose, Bohrer oder Uhr, es gibt nichts, was nicht den Hafen passiert. Er ist eine klaffende Wunde. Endpunkt der endlosen Reisewege der Waren. Die Schiffe kommen an und steuern im Golf auf das Hafenbecken zu wie die Jungen zu den Zitzen des Muttertieres, nur daß sie nicht saugen, sondern ausgesaugt werden. Der Hafen von Neapel ist die Öffnung im Globus, durch die ausgespuckt wird, was China und der Orient hervorbringen, den die Chronisten auch heute noch gern den Fernen Osten nennen. Fern, sehr fern. Fast unvorstellbar. Wenn wir die Augen schließen, sehen wir Kimonos, Marco Polo mit seinem Bart und Bruce Lee im kühnen Sprung. In Wirklichkeit ist dieser Orient mit dem Hafen von Neapel so eng wie mit keinem anderen Ort der Welt verbunden. Hier hat der Orient nichts Fernes. Er liegt unmittelbar vor der Tür und müßte der Nahe Orient genannt werden. Alles, was China produziert, wird hier ausgekippt. Wie wenn einem Kind sein Eimerchen in einer Sandkuhle umfällt und das verschüttete Wasser sich ausbreitet und versickert. Über Neapel werden zwanzig Prozent des Wertes der Textilproduktion aus China eingeführt, aber siebzig Prozent der Warenmenge passieren den Hafen. Dieses merkwürdige Phänomen ist schwer zu verstehen, aber Waren haben magische Fähigkeiten, sie können existieren, ohne vorhanden zu sein, ankommen, ohne je zu erscheinen, den Kunden ein Vermögen kosten, obwohl sie wertlos sind, für die Steuerbehörden als Lumpen durchgehen, obwohl sie aus edlem Material sind. Bei den Textilien gibt es eine ganze
Reihe Warenkategorien, und auf den Begleitpapieren genügt ein Federstrich, um Kosten und Mehrwertsteuer radikal zu senken. Im schwarzen Loch des Hafens scheint sich die molekulare Struktur der Dinge aufzulösen und erst in einiger Entfernung von der Küste wieder zusammenzufügen. Die Ware muß den Hafen sofort verlassen. Alles geht so schnell, daß sie verschwindet, während es geschieht. Als ob gar nichts gewesen wäre, nur eine Handbewegung. Eine nicht vorhandene Fahrt, eine falsche Ankunft, ein Gespensterschiff, eine Ladung, die sich in Luft auflöst. Als ob sie nie existiert hätte. Verdampft. Die Ware muß beim Käufer ankommen ohne Spuren ihrer Reise, sie muß sein Lager schnell erreichen,
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