Der Fluch
Studenten des Grace College werden mit einem strahlend blauen Himmel begrüßt und einer Sonne, die die Temperaturen nach oben schnellen lässt.
Zusammen mit David und drei Senior-Studenten bin ich dafür verantwortlich, das absolute Chaos zu vermeiden. Der Dean hat mich gefragt, ob ich Studienbetreuerin werden will, und ich habe den Job übernommen. Unter anderem auch deswegen, weil er mir das Gefühl gibt, wirklich angekommen zu sein, hier oben im Tal.
Mrs Jones nähert sich mit einer Gruppe Mädchen, die nervös ihre Koffer hinter sich herziehen, und strahlt mich an. »So, das müssten die Letzten sein.« Sie drückt mir eine Liste in die Hand. »Wollen Sie die Begrüßung übernehmen, Rose?«
Mrs Jones unterrichtet im Department Psychologie und ist dieses Semester als Jahrgangsleiterin für die Freshmen verantwortlich.
Psychologen habe ich mir ehrlich gesagt immer anders vorgestellt. Irgendwie – keine Ahnung – zerstreut, na ja, und ein wenig schlampig. Mit diesem Blick, der tief in die Seele schaut. Mrs Jones erfüllt diese Vorurteile in keiner Weise. Gepflegt und geschmackvoll in eine hellgraue Hose und weiße Bluse gekleidet, erinnert mich ihr eleganter Kleidungsstil an meine Mutter. Eine Frau, die immer alles im Griff hat, besonders sich selbst.
Ich glaube, wir werden gut miteinander auskommen.
»Was meinen Sie, Rose?«, raunt Mrs Jones mir zu. »Am besten, wir schicken sie nach der Begrüßung erst einmal in ihre Zimmer, damit sie auspacken können, und treffen uns anschließend im Foyer zu einer Führung durch das Gebäude?«
Ich nicke.
Sie blickt auf ihre Armbanduhr. »Sagen wir in einer Stunde?«
»Okay.«
Ich wende mich der Gruppe zu. Blicke treffen mich und bleiben an mir hängen.
»Krebs …?« Das Wort wird geflüstert, aber ich weiß sofort, dass ich gemeint bin oder besser gesagt meine Glatze.
»Kann sie keine Mütze tragen oder eine Perücke?«
Ich ignoriere die Stimme.
»Ich meine, das hier ist eine Eliteuni, oder? Da sollte man doch auf sein Aussehen achten.«
Tatsache ist, die meiste Zeit denke ich gar nicht mehr an die Glatze. Ich vergesse sie einfach und den meisten Studenten und Dozenten am Grace geht es vermutlich genauso. Man hat sich an meinen Alienstatus gewöhnt und den Neuen wird es auch so gehen.
Ich wende mich der Liste zu, die Mrs Jones mir in die Hand gedrückt hat. Zwanzig neue Namen. Zwanzig – ebenso nervöse wie erwartungsvolle Augenpaare sind auf mich gerichtet. Die Studentinnen sind aufgeregt, ängstlich oder auch betont cool und es ist meine Aufgabe, ihnen Sicherheit und Vertrauen zu vermitteln. Ich setze ein strahlendes Lächeln auf und versuche, mich daran zu erinnern, wie ich mich ein Jahr zuvor bei meiner Ankunft hier oben gefühlt habe. Eine komplizierte Mischung aus Verzweiflung und Hoffnung.
Rasch überfliege ich die Namen auf der Liste und versuche automatisch, ihnen Gesichter zuzuordnen. Dann sage ich energisch: »Hallo, darf ich um eure Aufmerksamkeit bitten? Ich lese jetzt nacheinander die Namen der Mädchen vor, die zusammen in einem Apartment wohnen. Ihr erhaltet dann die Schlüssel und wir gehen gemeinsam in den Nordflügel, wo ihr eure Zimmer beziehen könnt.«
Die Mädchen verstummen nach und nach und sehen mich an.
»Abraham, Diana.«
Die Hand, die nach oben geht, gehört zu einem Mädchen in Jeans. Turnschuhe, ein mit irgendeinem coolen Spruch bedrucktes Shirt und eine Lederjacke. Wiedererkennungsfaktor die grässliche Kurzhaarfrisur, die nach einem Friseur schreit. Laut Liste ist ihr Hauptfach Amerikanische Literatur. Diana wirkt so missmutig, als sei sie für das College zwangsverpflichtet. Nun – vielleicht ist sie das ja auch. Vielleicht haben ihre Eltern das College für sie ausgesucht.
Bei mir war das Gegenteil der Fall.
Meine Eltern hätten es mir am liebsten verboten, hierherzukommen. Aber es war die einzige Möglichkeit, Boston und allem, was dort passiert ist, zu entfliehen.
Konzentrier dich, Rose.
»O’Neill, Mary.«
Eine leise, schüchterne Stimme antwortet. »Hier.«
»Dein Hauptfach steht nicht auf der Liste.«
»Mathematik.«
Sie ist so dünn, dass ich fürchte, sie könne in der Mitte durchbrechen. Eventuell magersüchtig, notiere ich in meinem Kopf. Mit einem Blick auf Mrs Jones sehe ich, dass sie dasselbe denkt.
Ich muss mich ein bisschen um sie kümmern, speichere ich ab. Ich habe mir vorgenommen, meine Aufgabe anders anzugehen als die oberflächliche Isabel Hill, die uns bei unserer Ankunft betreut
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