Der Fluch
Gesicht, das zerfällt, und im Innern steckt ein neues, ein anderes Gesicht. Es sieht mich direkt an.
Und dann passiert das, was immer passiert. Ich muss zum Pinsel greifen und bin schon dabei, die Struktur wieder und wieder zu bearbeiten. Ich denke an Sally, ihr Gesicht, die Hände, die blauen Augen. Der Blick, der so unendlich viel Weisheit enthält.
Und dann vergesse ich die Zeit, den Raum und das Licht, das immer mehr in die Dämmerung übergeht.
Es sind die Geräusche, die mich irgendwann wieder in die Wirklichkeit zurückholen. Um mich herum ist es dunkel. Die einzige Lichtquelle kommt von der Außenbeleuchtung des Campus. Fast scheint es, als hätte ich blind gemalt. Ich drehe mich zur Wand um und schalte das Licht an.
Irgendwo schlägt eine Tür zu, vorne rascheln die Plastikplanen und bewegen sich leicht. Aber ich kann niemanden sehen.
In diesem Moment fällt mein Blick auf die Staffelei neben meiner. Das Bild ist mit einem weißen Tuch abgedeckt. Ein seltsames Gefühl macht sich in mir breit und ich kann erst nach ein paar Augenblicken benennen, was mich stört. Aber je länger ich nachdenke, desto sicherer bin ich, dass die Staffelei gestern noch nicht hier war.
Unwillkürlich hebe ich eine Ecke des Tuches an, um mir das Bild anzusehen. Noch ist kaum etwas zu erkennen. Lediglich der Hintergrund ist angelegt.
Aber die grauen Farbtöne, die an weißen Marmor erinnern und die mich so viel Zeit gekostet haben, bis ich das richtige Mischungsverhältnis gefunden hatte, hätte ich überall wiedererkannt.
Es sind die gleichen, die ich verwende. Auch die Struktur ist exakt dieselbe.
Und erst jetzt fällt mir auf, dass Muriel nicht gekommen ist.
5. Rose
Der erste reguläre Unterrichtstag, der Montagmorgen, beginnt mit der Philosophievorlesung bei Brandon. Er kommt vermutlich wie immer in der letzten Minute, doch Ike, seine schwarze Dogge, liegt bereits vorne neben dem Pult. Manchmal denke ich, der Hund kennt Brandons Stundenplan besser als der Prof selbst.
Ansonsten herrscht noch Ferienstimmung. Die Flügelfenster des Hörsaals sind weit geöffnet, es riecht nach Frühling und Sonne, nicht das leiseste Lüftchen regt sich draußen.
Die meisten Studenten sind in ein Gespräch vertieft, zeigen sich Fotos auf ihren iPhones, diskutieren lautstark. Irgendjemand spielt laut Musik auf seinem Laptop ab.
Mein Blick fliegt über die Sitzreihen und ich erkenne Muriel, die in einer der mittleren Reihen sitzt. Ich steige die Stufen im Gang nach oben und schiebe mich auf den Platz neben sie.
»Wie geht’s?«, frage ich.
Sie sieht mich nicht an, murmelt lediglich: »Alles okay.«
»Warum bist du gestern Abend nicht gekommen?«
Sie ist wirklich seltsam. Offenbar fällt es ihr schwer, mir in die Augen zu sehen. Sie wirkt furchtbar nervös. »Ich war dort, aber die Türen waren abgeschlossen.«
»Wann warst du denn oben?«
»So gegen halb acht.«
»Merkwürdig, da war ich auch da.« Ich mache eine Pause und füge schließlich hinzu: »Die Ateliers sind nie abgeschlossen. Wir können jederzeit rein.«
Sie wendet den Kopf, zuckt mit den Schultern: »Keine Ahnung, aber die Tür war verschlossen. Ich dachte, du hättest es vergessen.«
Ich lasse das so stehen. Ich bin nicht der Typ, mich zu streiten, schon gar nicht über solche Nebensächlichkeiten. »Was ist mit heute? Wenn du willst, können wir uns nachher treffen und ich gehe mit dir meine Aufzeichnungen durch.«
Sie wendet sich ab. »Nicht mehr nötig.«
Ich will noch etwas sagen, doch plötzlich höre ich, wie jemand meinen Namen ruft.
»Rosy-Rose.«
Ich drehe mich um. Sam Ivy lehnt ganz oben an der Wand. Er trägt ein weißes T-Shirt zu einer grauen Anzughose und seine Frisur erinnert an Barnie aus How I met your mother. Neben ihm schiebt sich jetzt auch noch Ian O’Connor aus der Reihe und winkt mir zu. Ich verdrehe die Augen. Die beiden spielen die Bad Boys des Grace College, aber mich haben sie bisher in Ruhe gelassen. Vermutlich wegen meiner Glatze.
Doch jetzt haben sie ein Lächeln auf den Lippen, das sie vermutlich für verführerisch halten, und winken mir zu.
»He«, ruft O’Connor. Er hebt die Hände und ruft über die Stuhlreihen. »Mögen die Spiele beginnen.«
Im Saal wird es merklich stiller und ich spüre, wie sich Köpfe zu mir umdrehen.
Ich tippe mir nur an die Stirn und beuge mich demonstrativ zu meiner Tasche nach unten. In meinem früheren Leben habe ich gelernt, Typen wie O’Connor zu ignorieren, und das, was mir passiert
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