Der Fluch
lächerliche Geste. Und – denke ich – man sieht es mir an, dass ich nicht die Wahrheit sage.
Ich bin im falschen Film. Irgendwie hineingeraten und habe keine Ahnung, wie ich wieder herauskommen soll. Schließlich spiele ich so etwas wie die Hauptrolle. Ich bin diejenige, die die Leiche entdeckt hat. Bei dem Gedanken daran spüre ich das klebrige Blut an meinen Fingern und unwillkürlich kontrolliere ich meine Kleidung nach weiteren Blutflecken. Ich möchte mir dringend die Hände waschen, aber ein Blick auf den Beamten sagt mir, dass er es mir nicht schon wieder gestatten wird, den Waschraum aufzusuchen.
Ich werde die Bilder einfach nicht los. Sie haben sich fest in mein Gedächtnis eingebrannt.
Die Dunkelheit in dem Loch.
Das Bewusstsein, dass Muriel dort unten in diesem Schacht gestorben ist und ich ihr nicht helfen konnte.
Die lange Zeit des Wartens, bis die Security endlich eintraf. Und die Erleichterung, als die Männer des collegeeigenen Sicherheitsdienstes vor mir standen.
Nur wenig später kamen die Sanitäter und der Notarzt und am Ende schließlich die Beamten der Spurensicherung, die sich in ihren weißen Overalls und den Plastikhüllen über ihren Schuhen gleichsam in Zeitlupe bewegten. Angestrahlt von den grellen Lampen, die die Dunkelheit erhellten und alles in dieses unwirkliche Licht tauchten, sahen sie aus wie Außerirdische, die gerade im Tal gelandet waren.
Ich konnte meinen Blick nicht von der Trage lösen, die sie aus der Hütte rollten und auf der dieser Plastiksack lag, der leise im Wind raschelte.
In eine warme Decke gehüllt, klammere ich mich an den Stuhl im Büro der Security. Ich bin total erschöpft, doch die unaufhörlichen Fragen prasseln auf mich ein und geben mir keine Chance zum Luftholen. Ein Ende ist nicht abzusehen, aber das Schlimmste ist das Chaos, das sich in meinem Innern ausbreitet, verborgen für Superintendent Richard Harper, der mich keine Sekunde aus den Augen lässt. Unsichtbar für die beiden Beamten, die, ohne eine Miene zu verziehen, auf ihren Stühlen sitzen, als seien sie festgeklebt. Kann man das lernen? Keine Reaktion zu zeigen? Kein Gefühl? Keine Trauer angesichts des Todes?
Mrs Jones, die Vertrauenslehrerin, streicht sich eine dunkelbraune Strähne ihrer langen Haare aus dem Gesicht. Es ist ihr anzusehen, dass sie sich nur schnell etwas übergezogen hat, als man sie benachrichtigt hat. Sonst immer korrekt gekleidet, stehen jetzt zwei Knöpfe ihrer weißen Bluse offen. Zudem trägt sie keinen Schmuck. Und die Wimperntusche unter ihrem rechten Auge ist verschmiert.
»Es ist halb zwei Uhr nachts«, sagt sie mit Blick auf ihre Uhr. »Sie sehen ja selbst, Miss Gardner ist völlig erschöpft. Sie steht unter Schock.«
Nicht zum ersten Mal interveniert Mrs Jones bei dieser Befragung, doch wie die Male zuvor ignoriert Superintendent Harper ihren Protest.
Ich denke an meine Mutter und daran, was sie wohl sagen würde, wenn sie wüsste, was ich hier mache. Sie würde nicht verstehen, wie ich auf den Gedanken komme, ohne Anwalt diese Vernehmung über mich ergehen zu lassen. Aber obwohl ich ganz genau weiß, dass ich theoretisch die Aussage verweigern könnte, hält mich dieses schreckliche Gefühl der Ohnmacht in seinen Klauen. Ich habe einfach nicht die Kraft, mich zu widersetzen.
»Also, Miss Gardner, jetzt erklären Sie uns bitte noch einmal, was sie dort an der Hütte wollten.«
»Ich wollte mich mit Muriel treffen.«
»Muriel Anderson.«
Ich nicke.
»Warum?«
»Sie … sie hat das Treffen vorgeschlagen. Sie wollte mir etwas erzählen.«
»Und was?« Harper lehnt sich zurück, ohne den Blick von mir zu nehmen.
»Das weiß ich nicht.«
»Sie waren also bereit, sich zu Einbruch der Dämmerung mitten im Nirgendwo mit ihr zu treffen, ohne zu wissen, worum es ging?« Verwundert hebt er die Augenbrauen.
»Ich hatte den Eindruck …« Ich halte kurz inne und überlege, wie ich es am besten formulieren soll. »Muriel wollte mir ein Geheimnis anvertrauen.«
Er pfeift durch die Zähne. »Ein Geheimnis?«
»Ja.«
Er lässt nicht locker. »Und Sie haben natürlich keine Ahnung, worum es bei diesem … Geheimnis ging?«
»Nein, als ich dort draußen … an der Hütte ankam … es gab keine Gelegenheit mehr – sie war schon …«
»Tot?«
»Nein …« Ich schüttele den Kopf. »Sie war zu schwach, um zu sprechen.« Wieder höre ich Muriels keuchenden Atem und mir wird klar, dass ich dieses Geräusch niemals vergessen werde. Sekundenlang kann ich dem
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