Der Fluch
seltsame Pause entsteht.
Warum habe ich den Eindruck, dass sie nicht wirklich das Gebäude meint? Sie scheint mit sich zu ringen, ist sich offenbar nicht sicher, wie sie sich ausdrücken soll.
Sie beugt sich vor. »Ich komme übrigens aus Boston«, sagt sie.
Der Blick, der mich aus ihren grünen Augen trifft, ist lange und intensiv. Fast so, als ob sie mich – nein, nicht aufspießen – sondern eher zu irgendetwas überreden wollen. Und noch etwas ist da, was mich irritiert.
»Ja, und?«
»Ich komme aus Boston. Wie du.«
Ich erstarre. So wie sie es sagt, klingt es, als läge in diesen Worten so etwas wie eine Warnung.
Am Abend schwirrt mein Kopf von den vielen Fragen, mit denen mich die neuen Studenten gelöchert haben. Bis wann haben wir Ausgang? Bis wie viel Uhr ist die Mensa offen? Kann man sein Hauptfach noch wechseln? Welche Profs sind gut, welche schlecht? Wo kann ich meine Wäsche waschen? Wie oft fährt der Bus nach Fields? Wenn sie sich dazu bequemen würden, das Collegehandbuch zu lesen, würden sie die Antworten dort finden.
Fast habe ich mein Treffen mit Muriel vergessen und beeile mich, nach oben in die Ateliers zu kommen, in denen ich in letzter Zeit so viele Abende verbracht habe.
Metamorphose. Ehrlich gesagt liegt mir das Thema nicht gerade. Es ist zu nah dran.
Metamorphose hat etwas mit Verwandlung zu tun. Und genau das ist der Prozess, in dem ich mich befinde.
Die Ateliers liegen im Hauptteil des historischen Collegegebäudes, zwei Stockwerke über der Mensa. Genau wie der Speisesaal sind sie zum See hin verglast. Ursprünglich handelte es sich nur um einen einzigen Raum in derselben Größe wie die Mensa. Doch im Herbst wurde er durch isolierte Schnellwände in drei Bereiche unterteilt. Einige Studenten hatten sich mit Recht beschwert. Der Lärm ist unerträglich, wenn erst einmal Spritzmaschinen, Hammer, Meißel oder Schleifmaschinen zum Einsatz kommen, denn die wenigsten haben sich auf die Malerei spezialisiert wie ich.
Ich kann von Glück reden, dass ich einen Arbeitsplatz im hintersten Bereich direkt an der Glasfront ergattert habe. Die bodentiefen Fenster hier lassen sich mit einem einfachen Handgriff zur Seite schieben und man hat Zutritt zur sogenannten Galerie – eine Art lang gestreckter Balkon, nicht breiter als ein halber Meter, der dafür sorgt, dass man bei geöffneten Schiebetüren nicht abstürzt. Im letzten Sommer habe ich meine Staffelei manchmal nach draußen auf die Plattform aus Blech geschoben. Ich liebe es, im Freien zu malen. Das Licht hier oben ist einfach unglaublich. Und man hat seine Ruhe.
Muriel ist noch nicht da.
Ich schiebe mich an Staffeleien vorbei, stolpere über Zeitungspapier auf dem Boden, über Farbeimer, umgehe Steinblöcke. Einige Studenten bevorzugen riesige Leinwände, andere beschäftigen sich mit einem Spritzverfahren, weshalb ein paar Arbeitsplätze mit Plastikplanen abgetrennt sind, die leise rascheln, wenn man daran vorübergeht.
Leinwände. Der Geruch nach Farbe. Das ist meine Welt. Sobald ich sie betrete, verändere ich mich. Das ist meine eigentliche Metamorphose, ein Gefühl, das den ganzen Körper und die Seele umfasst.
Als Mrs Forster noch hier unterrichtet hat, waren die Dinge für mich einfacher. Tödlich langweilig, aber einfach. Sie hat nie begriffen, was Kunst mit mir macht, was es für mich bedeutet, vor der Staffelei zu stehen und zu fühlen.
Mr Flanagan ist da anders. Er versteht mich, sieht mich, wie ich bin, und gerade das ist das Schwierige daran. Immer wieder versucht er, mir begreiflich zu machen, dass ich den Prozess laufen lassen muss. Ich darf nicht zu viel denken. Es gibt diesen Flow, sagt er, wo das Denken sich auflöst und man Zeit und Raum um sich herum vergisst. Das ist der Zustand, den ich erreichen muss. Dann geht alles wie von selbst.
Er weiß nicht, wie sehr ich mich davor fürchte. Es laufen zu lassen, bedeutet, dass ich die Kontrolle verliere.
Ich schaue auf die Uhr. Immer noch nichts von Muriel zu sehen oder zu hören. Nun, mir kann es egal sein, wenn sie sich verspätet. Ich werde sowieso eine Weile hierbleiben.
Ich nehme das Tuch von der Staffelei und mische meine Farben an. Bevor ich beginne, betrachte ich mein Bild lange. Das mache ich immer. Ich betrachte es im Ganzen und dann gehe ich jede Einzelheit durch. In diesem Fall die beiden Gesichter, die ineinanderstecken. Die äußere Hülle ist eine Art Totenmaske. Die Augen geschlossen, scheinen die Konturen immer mehr zu verblassen. Ein
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