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Der Fremde (German Edition)

Der Fremde (German Edition)

Titel: Der Fremde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Camus
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ganzen Weile hat er mir, ohne mich anzusehen, erklärt: «Sie war sehr eng mit Ihrer Frau Mutter befreundet. Sie sagt, es wäre ihre einzige Freundin hier gewesen, und jetzt hätte sie niemand mehr.»
    Wir sind eine ganze Weile so sitzen geblieben. Die Seufzer und Schluchzer der Frau wurden seltener. Sie schniefte viel. Sie ist endlich still geworden. Ich war nicht mehr müde, aber erschöpft, und das Kreuz tat mir weh. Jetzt war es das Schweigen all dieser Leute, das mich quälte. Nur hin und wieder hörte ich ein eigentümliches Geräusch und konnte nicht herausfinden, was es war. Mit der Zeit habe ich dann erraten, dass einige der alten Leute die Innenseite ihrer Wangen einsogen und dieses sonderbare Schnalzen von sich gaben. Sie waren so sehr in Gedanken versunken, dass sie es nicht merkten. Ich hatte sogar den Eindruck, dass diese in ihrer Mitte aufgebahrte Tote ihnen nichts bedeutete. Aber ich glaube jetzt, dass das ein falscher Eindruck war.
    Wir haben alle den vom Pförtner ausgeschenkten Kaffee getrunken. Was dann war, weiß ich nicht mehr. Die Nacht verging. Ich erinnere mich, dass ich irgendwann die Augen aufgemacht habe und gesehen habe, dass die alten Leute in sich zusammengesunken schliefen, bis auf einen, der mich, das Kinn auf dem Rücken seiner den Stock umklammernden Hände, starr ansah, als wartete er nur auf mein Erwachen. Dann habe ich wieder geschlafen. Ich bin aufgewacht, weil mein Kreuz immer mehr schmerzte. Über dem Glasdach wurde es hell. Kurz darauf ist einer der alten Männer aufgewacht und hat viel gehustet. Er spuckte in ein großes kariertes Taschentuch, und jedes Mal war es, als wenn er den Auswurf aus sich herausrisse. Er hat die anderen geweckt, und der Pförtner hat gesagt, sie müssten gehen. Sie sind aufgestanden. Von dieser unbequemen Totenwache hatten sie Aschegesichter. Beim Hinausgehen, und zu meinem großen Erstaunen, haben mir alle die Hand gedrückt – als hätte diese Nacht, in der wir kein Wort gewechselt hatten, unsere Verbundenheit vergrößert.
    Ich war erschöpft. Der Pförtner hat mich mit in seine Wohnung genommen, und ich habe mich ein bisschen frischmachen können. Ich habe noch einen Milchkaffee getrunken, der sehr gut war. Als ich hinausgegangen bin, war es heller Tag. Über den Hügeln, die Marengo vom Meer trennen, war der Himmel voller Rottöne. Und der Wind, der darüberstrich, trug einen Salzgeruch hierher. Ein schöner Tag stand bevor. Es war lange her, dass ich auf dem Land gewesen war, und ich fühlte, welchen Spaß es mir gemacht hätte, spazieren zu gehen, wenn da nicht Mama gewesen wäre.
    Aber ich habe im Hof unter einer Platane gewartet. Ich atmete den Geruch der kühlen Erde ein und war nicht mehr müde. Ich habe an die Kollegen im Büro gedacht. Um diese Zeit standen sie auf, um zur Arbeit zu gehen: Für mich war das immer der schwierigste Augenblick. Ich habe noch ein wenig über diese Dinge nachgedacht, aber ich bin von einer Glocke abgelenkt worden, die im Innern der Gebäude läutete. Es hat ein Hin und Her hinter den Fenstern gegeben, dann ist alles wieder ruhig geworden. Die Sonne war am Himmel etwas höhergestiegen: Sie begann meine Füße zu wärmen. Der Pförtner ist über den Hof gekommen und hat mir gesagt, der Heimleiter wollte mich sprechen. Ich bin in sein Büro gegangen. Er hat mich eine Reihe Schriftstücke unterschreiben lassen. Ich habe gesehen, dass er schwarz gekleidet war, mit einer gestreiften Hose. Er hat den Telefonhörer in die Hand genommen und hat mich dabei angesprochen: «Die Angestellten des Bestattungsinstituts sind eben gekommen. Ich werde sie herbitten, damit sie den Sarg schließen. Wollen Sie Ihre Mutter vorher ein letztes Mal sehen?» Ich habe nein gesagt. Er hat mit leiserer Stimme ins Telefon befohlen: «Figeac, sagen Sie den Männern, sie können hingehen.»
    Danach hat er mir gesagt, dass er an der Beerdigung teilnehmen würde, und ich habe ihm gedankt. Er hat sich hinter seinen Schreibtisch gesetzt, hat seine kurzen Beine übereinandergeschlagen. Er hat mich davon unterrichtet, dass ich und er allein sein würden, mit der diensthabenden Krankenpflegerin. Im Prinzip dürften die Heimbewohner nicht an den Beerdigungen teilnehmen. Er ließe sie nur die Totenwache halten. «Es ist eine Frage der Menschlichkeit», hat er angemerkt. Aber im vorliegenden Fall hätte er einem alten Freund von Mama die Erlaubnis erteilt, im Trauerzug mitzugehen: «Thomas Pérez.» Hier hat der Heimleiter gelächelt. Er hat gesagt:

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