Der Fremde (German Edition)
Taschentuch Luft zu. Der Angestellte des Bestattungsinstituts hat daraufhin etwas zu mir gesagt, was ich nicht verstand. Gleichzeitig wischte er sich den Schädel mit einem Taschentuch ab, das er in der linken Hand hielt, während die rechte den Rand seiner Mütze anhob. Ich habe zu ihm gesagt: «Wie bitte?» Er hat auf den Himmel deutend wiederholt: «Die knallt ganz schön.» Ich habe «ja» gesagt. Kurz darauf hat er mich gefragt: «Ist das Ihre Mutter dadrin?» Ich habe noch einmal «ja» gesagt. «War sie alt?» Ich antwortete: «Ziemlich», weil ich die genaue Zahl nicht wusste. Danach hat er geschwiegen. Ich habe mich umgedreht und habe den alten Pérez ungefähr fünfzig Meter hinter uns gesehen. Er beeilte sich, wobei er seinen Filzhut in der Hand hin- und herschwenkte. Ich habe auch den Heimleiter angesehen. Er marschierte mit großer Würde ohne eine unnötige Bewegung. Ein paar Schweißperlen standen auf seiner Stirn, aber er wischte sie nicht ab.
Es schien mir, als bewegte sich der Trauerzug etwas schneller fort. Um mich herum war immer noch dieselbe leuchtende, von Sonne gesättigte Landschaft. Die Helligkeit des Himmels war unerträglich. Irgendwann sind wir über ein Stück Straße gekommen, das kurz zuvor ausgebessert worden war. Die Sonne hatte den Teer aufplatzen lassen. Die Füße versanken darin und legten sein glänzendes Fleisch frei. Oberhalb des Wagens schien der Lederhut des Kutschers aus diesem schwarzen Schlamm geformt zu sein. Ich war ein bisschen verloren zwischen dem blauweißen Himmel und der Monotonie dieser Farben, dem klebrigen Schwarz des aufgerissenen Teers, dem matten Schwarz der Kleider, dem Lackschwarz des Wagens. All das, die Sonne, der Geruch des Wagens nach Leder und Pferdemist, der nach Lack und nach Weihrauch, die Müdigkeit nach einer schlaflosen Nacht, trübte meinen Blick und meine Gedanken. Ich habe mich noch einmal umgedreht: Pérez schien mir sehr weit weg, in einem Schwall Hitze versunken, dann habe ich ihn nicht mehr gesehen. Ich habe nach ihm Ausschau gehalten und habe bemerkt, dass er die Straße verlassen hatte und querfeldein ging. Ich habe auch festgestellt, dass vor mir die Straße einen Bogen machte. Mir wurde klar, dass Pérez, der die Gegend kannte, den kürzesten Weg nahm, um uns einzuholen. In der Kurve war er wieder bei uns. Dann haben wir ihn verloren. Er ist wieder querfeldein gelaufen und so mehrmals. Ich fühlte, wie mir das Blut in den Schläfen pochte.
Danach ist alles so überstürzt, vorschriftsmäßig und natürlich abgelaufen, dass ich mich an nichts mehr erinnere. Nur an eines: Am Dorfeingang hat die diensthabende Pflegerin mit mir gesprochen. Sie hatte eine eigenartige Stimme, die nicht zu ihrem Gesicht passte, eine klangvolle, tremolierende Stimme. Sie hat zu mir gesagt: «Wenn man langsam geht, riskiert man einen Sonnenstich. Aber wenn man zu schnell geht, ist man verschwitzt und holt sich in der Kirche eine Erkältung.» Sie hatte recht. Es war ausweglos. Ich habe noch einige Bilder von diesem Tag behalten: zum Beispiel Pérez’ Gesicht, als er uns zum letzten Mal in der Nähe des Dorfes eingeholt hat. Dicke Tränen der Entkräftung und des Kummers rannen über seine Wangen. Aber wegen der Falten liefen sie nicht ab. Sie breiteten sich aus, flossen wieder zusammen und bildeten einen Wasserfirnis auf diesem zerstörten Gesicht. Dann waren da noch die Kirche und die Dorfbewohner auf den Bürgersteigen, die roten Geranien auf den Friedhofsgräbern, Pérez’ Ohnmacht (als wäre er ein verrenkter Hampelmann), die blutrote Erde, die auf Mamas Sarg polterte, das weiße Fleisch der Wurzeln, die sich daruntermischten, wieder Leute, Stimmen, das Dorf, das Warten vor einem Café, das unaufhörliche Dröhnen des Motors und meine Freude, als der Bus in das Lichternest von Algier eingefahren ist und ich gedacht habe, dass ich gleich ins Bett gehen und zwölf Stunden schlafen würde.
II
Als ich aufwachte, ist mir klar geworden, warum mein Chef verstimmt aussah, als ich ihn um zwei Tage Urlaub gebeten habe: Heute ist Sonnabend. Ich hatte es sozusagen vergessen, aber beim Aufstehen ist es mir eingefallen. Mein Chef hat natürlich gedacht, dass ich so mit meinem Sonntag vier Tage Urlaub hätte, und das konnte ihn nicht freuen. Aber einerseits ist es nicht meine Schuld, dass man Mama gestern und nicht heute beerdigt hat, und andererseits hätte ich auf alle Fälle meinen Sonnabend und meinen Sonntag gehabt. Selbstverständlich kann ich meinen Chef
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