Der Fremde ohne Gesicht
lassen.«
Sie kehrte zu dem Leichnam zurück. »Die Leiche weist keine offensichtlichen Verletzungen auf. Die Knochen scheinen intakt zu sein.«
Dann fiel ihr etwas auf. Fast unsichtbar befand sich zwischen mehreren Nagespuren, die die Ratten hinterlassen hatten, am linken Rippenbogen eine kleine, schmale Kerbe. Sie sah anders aus und hatte offensichtlich einen anderen Ursprung als die anderen Verletzungen, die Sam an dem Skelett festgestellt hatte. Sie beugte sich über den Brustkorb, um sich die Sache näher anzusehen. »Fred, könnten Sie das Licht mal hierher richten?«
Fred rückte die Sezierlampe in Position und sorgte dafür, dass Sam nicht durch irgendwelche Schatten bei der Arbeit gestört wurde.
»An einer der unteren Rippen befindet sich ein Kratzer oder eine Kerbe, die offensichtlich nicht durch eine Ratte oder ein anderes Tier verursacht wurde.« Sie streckte ihre Hand aus. »Reichen Sie mir mal die Lupe, Fred.« Ihr Assistent hatte sie schon in der Hand und gab sie sofort an sie weiter. Sie musterte die Kerbe eingehend und geduldig, vermaß sie, betrachtete den Winkel und die Tiefe der Einkerbung und ließ Sharman mehrere Fotos davon machen. Dann untersuchte sie den Rest des Brustkorbes, überzeugt, dass sie mehrere weitere ähnliche Kerben übersehen hatte. Doch nach ein paar Minuten gründlichen Suchens hatte sie zu ihrer Überraschung nichts dergleichen gefunden. Bei den anderen Vertiefungen, die sie sich näher vornahm, handelte es sich eindeutig um Rattenbisse, nicht um Messerwunden. Noch einmal untersuchte sie die erste Kerbe. Dann blickte sie auf. »Fred, rufen Sie bitte Colin Flannery an. Ich brauche ihn und sein Team sofort hier. Erklären Sie ihm die Situation. Wenn er irgendwelche Formulare verlangt, sagen Sie ihm, ich kümmere mich darum, wenn er hier ist. Sagen Sie ihm, es sei eine Gefälligkeit für mich.«
Fred nickte und verschwand in Sanis Büro. Sharman konnte nicht mehr an sich halten: »Könnte mir vielleicht mal jemand verraten, was hier eigentlich abgeht?«
Sam nahm seine behandschuhte Hand und fuhr mit seinem Fingernagel durch die Kerbe. »Das da ist eine Stichwunde.«
Sharman hatte nicht vor, sich auf eine Debatte mit ihr einzulassen, aber er war neugierig. »Woher wollen Sie das wissen?«
»Die Kerbe ist geformt wie ein kleines V, das in die Rippe hineingeschnitten ist. Der Winkel führt von unten nach oben. Der Mörder hat das Messer hier unten hinein« – sie drückte mit ihrer Hand seitlich gegen ihren Bauch – »und dann nach oben gerammt« – wieder ahmte sie die Bewegung mit der Hand nach – »in den Brustkorb und in Lunge und Herz. Dabei hat er die Kante der Rippe erwischt und dieses verräterische Zeichen hinterlassen.«
Sharman grinste breit. Sam hatte seine Theorie bewiesen.
»Gibt es denn nur eine Kerbe? Musste er nicht mehrmals zustechen?«
Sie nickte. »Ja, ich hätte auch damit gerechnet, mehr Spuren zu finden. Ich hatte Glück, dass mir diese hier aufgefallen ist.«
Das war nur falsche Bescheidenheit, wie er wusste. Sam hatte nie »Glück«, sie war einfach gut.
»Aber offenbar ist wirklich nur die eine da. Wäre nicht das erste Mal, dass ein einziger, gut gezielter Stich tödlich ist. So ungewöhnlich ist das nicht.« Sie sah ihn direkt an. »Tja, Stan, sieht aus, als hätten Sie Recht gehabt mit Ihrem Riecher. Dieses Mädchen wurde ermordet. Jetzt müssen wir nur noch Adams davon überzeugen.«
Wenn er den Mut dazu gehabt hätte, dann hätte er sie vom Boden hochgehoben und durch die Luft gewirbelt. Stattdessen legte er ihr nur verlegen die Hand auf die Schulter. »Danke für Ihr Vertrauen, Dr. Ryan.«
Sie lächelte ihn an. »Ich danke Ihnen, Stan. Irgendwie gelingt es Ihnen, einem das Leben viel interessanter zu machen. Sagen Sie Adams Bescheid oder soll ich das machen?«
Sharman grinste. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, könnten wir nicht beide hingehen und es ihm sagen? So zur gegenseitigen Unterstützung. Ich lade Sie hinterher auf einen Drink ein. Abgemacht?«
»Abgemacht. Lassen Sie mich nur schnell meinen Kittel ausziehen. Ich kann es gar nicht abwarten, sein Gesicht zu sehen.«
Graham Ward und Adams standen sich im Vernehmungszimmer in der Polizeizentrale in Cambridge gegenüber. Neben Ward stand ein nervös dreinblickender Mr. Appleyard und hielt sich mit weiß hervortretenden Knöcheln am Griff seiner Aktentasche fest. Adams starrte Ward in die Augen, während er begann, ihm die Anklageschrift vorzulesen.
»Graham Robert
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