Der Fremde ohne Gesicht
Röntgenaufnahmen der Leiche an. Falls Sam etwas entgehen sollte, würde es später auf den Aufnahmen zum Vorschein kommen, einschließlich etwaiger alter Verletzungen, die mit bloßem Auge nicht mehr sichtbar waren, aber Hinweise auf wiederholte Misshandlungen liefern konnten. Nachdem das erledigt war, begann Fred alle Fremdkörper zu entfernen, die noch an dem Leichnam hingen, und sie sorgfältig in Beweismittelbeutel zu verpacken: kleine Abfallbrocken, tote Insekten und Maden, Laubreste und etwas, das aussah wie Blütenblätter von Wiesenblumen. Normalerweise würde sich ein Team von Tatort-Spezialisten um diese Aufgabe kümmern, aber da nur Fred zur Verfügung stand, mussten sie sich eine Weile gedulden, wenn das gründlich gemacht werden sollte. Sobald alles gesammelt war, würden sie die Beutel beschriften und zur Analyse ans Labor in Scrivingdon schicken. Sam wusste, dass man an den Fremdkörpern, die an einer Leiche gefunden wurden, eine Menge ablesen konnte: den eigentlichen Schauplatz des Mordes, die Todeszeit, sogar den allgemeinen Gesundheitszustand des Toten.
Als Fred fertig war und Sam sich vergewissert hatte, dass alles gesammelt und eingetütet war, trat sie an die Mitte des Seziertisches und ließ ihren Blick langsam von oben nach unten über die Leiche wandern. Dann wandte sie sich an Sharman. »Kommen Sie, Stan, stellen Sie sich neben mich.«
Sharman tat es.
»So, mein Junge, jetzt werde ich Ihnen beibringen, woran man den Unterschied zwischen Männlein und Weiblein erkennt.«
Er grinste sie an. »Ich glaube, davon habe ich schon eine ungefähre Vorstellung.«
»Und hoffentlich auch die Ursache des Todes der jungen Frau, die wir vor uns haben«, fuhr Sam mit einem missbilligenden Stirnrunzeln fort.
Er sah sie überrascht an. »Der jungen Frau? Wie können Sie da so sicher sein? Weil sie den Mund offen hat?« Sofort biss er sich auf die Lippe. Idiotischer Witz.
Sam schien keine Notiz davon zu nehmen. Sie deutete auf den Kopf. »Schauen Sie sich den Schädel an. Er ist schmaler, kleiner und leichter als der männliche Schädel.«
Sharman nickte. Sehen konnte er das eigentlich nicht, aber er hatte nicht vor, seine Unwissenheit durchblicken zu lassen.
»Sie sehen also«, fuhr Sam mit einem Augenzwinkern fort, »dass Männer viel dickschädeliger sind als Frauen. Hier ist der Beweis.«
Ihm fiel wieder ein, warum er Sam Ryan schon immer gemocht hatte. Sie sah nicht nur verdammt gut aus, sondern hatte auch einen herrlichen schwarzen Humor, der seinem eigenen entsprach.
»Auch die Brauenknochen sind stärker ausgeprägt. Sehen Sie es?«, fuhr Sam fort.
Er schaute hin. Wenn er eine Vergleichsmöglichkeit gehabt hätte, wäre es ihm sicher aufgefallen, aber so konnte er nur zustimmend grunzen.
Sam ging zum Rest des Körpers über. »Ein weiterer deutlicher Hinweis ist das Becken. Bei eine Frau ist es breiter und flacher, so wie dieses hier. Außerdem war die Tote weiß. Auch das erkennen Sie an der Form und Größe der Gesichtsknochen. Wir wissen also bereits, dass sie weiblich und eine Weiße war.«
»Noch etwas?«, fragte Sharman.
Sam warf ihm einen Blick unter hochgezogenen Augenbrauen zu. »Hetzen Sie mich nicht. Das hier ist eine kostenlose Sondervorstellung, vergessen Sie das nicht.«
Er hob entschuldigend die Hände, während Sam sich wieder dem Schädel zuwandte.
»Die Zähne sehen gesund und intakt aus; wenige Füllungen, keine Kronen. Nach dem Durchbruchstadium der Weisheitszähne würde ich schätzen, dass diese Person« – sie hielt einen Moment inne, um ihre Rolle auszukosten und den Effekt zu steigern – »Anfang bis Mitte zwanzig war.«
Als Nächstes wandte sie ihre Aufmerksamkeit den Maßen der Leiche zu. Fred maß die Länge der Beinknochen.
»Nach den Maßen der Oberschenkelknochen und Schienbeine zu urteilen, würde ich sagen, dass die Frau zwischen 1,70 und 1,75 groß war. An dieser Stelle sollte ich anmerken, dass an verschiedenen Teilen des Skeletts Nagespuren zu sehen sind. Angesichts des Fundortes der Leiche würde ich vermuten, dass sie von Ratten stammen.«
Nun widmete sich Sam ein weiteres Mal dem Schädel. Sie griff nach einer Schere und schnitt einige Strähnen von den wenigen Haaren ab, die noch übrig waren. »Ihr Haar ist offenbar braun, aber es könnte gefärbt sein.«
Sie ließ die Strähnen in einen Probenbeutel fallen, den Fred für sie aufhielt. »Legen sie das bitte in mein Büro, Fred. Ich werde Marcia später einen Blick darauf werfen
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