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Der fremde Tibeter

Titel: Der fremde Tibeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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auf die Decke. Es war ein Foto des Dalai Lama. Drei Jungen begannen ein Spiel, indem sie versuchten, mit Kieseln in einen alten Reifen zu treffen. In dem Haus gegenüber der Garage öffnete sich ein Fenster, aus dem jemand ein Bambusrohr schob, an dem Wäsche zum Trocknen aufgehängt war, die nun wie eine Reihe Gebetsfahnen über der Straße hing.
    Shan sah dem Treiben fünf Minuten lang zu, wählte dann eine Rolle Süßigkeiten aus dem Sortiment der Frau aus und bat Yeshe, dafür zu bezahlen. »Die Störung tut mir leid«, sagte er. »Der Mann, der hier gewohnt hat, wird vermißt.« »Verdammter dummer Junge«, erwiderte sie.
    »Sie kennen Balti?«
    »Geh zum Gebet, habe ich gesagt. Erinnere dich daran, wer du bist, habe ich gesagt.«
    »Hat er denn ein Gebet gebraucht?« fragte Shan.
    Sie wandte sich an Yeshe. »Sag es ihm«, entgegnete sie. »Sag ihm, daß nur die Toten keine Gebete brauchen. Abgesehen von meinem toten Mann«, fügte sie seufzend hinzu. »Mein Mann war ein Spitzel. Betet für ihn. Er ist zu einem Nagetier geworden. Abends kommt er zu mir, und ich füttere ihn mit ein wenig Getreide. Der alte Narr.«
    Einer der Hirten, der nach wie vor seinen Stab bei sich trug, ging zu der Frau und flüsterte ihr etwas zu.
    »Du sei ruhig!« herrschte die Witwe ihn an. »Erst wenn du so reich bist, daß keiner von uns mehr arbeiten muß, lasse ich mir von dir vorschreiben, mit wem ich rede und mit wem nicht.«
    Sie holte fünf Zigaretten hervor, die in Seidenpapier gewickelt waren, und legte sie sorgfältig vor sich auf die Decke. Dann nahm sie Yeshe genauer in Augenschein. »Bist du derjenige?«
    »Derjenige?« fragte Yeshe einfältig.
    »Ich habe im Tempel ein Gebet hinterlassen. Damit die Teufel vertrieben werden. Jemand wird kommen. Es ist möglich. Früher hat es Priester gegeben, die dazu in der Lage waren. Mit nur einem einzigen Laut konnten sie es vollbringen. Falls du ein Geräusch von dir gibst, das bis in die nächste Welt vernommen wird, kann dadurch alles wieder in Ordnung gebracht werden.«
    Yeshe sah die Frau verwirrt an. »Wieso glauben Sie, daß ich diese Person sein könnte?«
    »Weil du gekommen bist. Du bist der einzige Gläubige, der gekommen ist.«
    Yeshe warf Shan einen beunruhigten Blick zu. »Wissen Sie, wo der khampa ist?« fragte er die Frau.
    »Er hat schon immer gesagt, daß man ihn eines Tages holen würde. Er hat uns sogar dafür bezahlt, daß wir aufpassen. Nachts, wenn er ihn mit nach Hause brachte, haben mein Mann und ich stets die Treppe im Auge behalten. Wir haben extra tagsüber geschlafen, damit wir nachts Wache halten konnten.«
    »Wen oder was hat er denn mitgebracht?« fragte Yeshe.
    »Den Koffer. Den kleinen Koffer. Mit Unterlagen. Er hat immer einige Nächte lang für seinen Chef darauf aufgepaßt. Große Geheimnisse. Am Anfang war er ganz stolz deswegen. Später hatte er Angst. Trotz des Verstecks hatte er Angst.«
    »Was für Unterlagen? Haben Sie sie gesehen?« fragte Yeshe.
    »Natürlich nicht. Ich arbeite doch wohl kaum für die Regierung, oder? Gefährliche Geheimnisse. Worte der Macht. Regierungsgeheimnisse.«
    »Sie haben ein Versteck erwähnt«, warf Shan ein. »Meinen Sie damit, er hat ein besonderes Versteck für den Koffer gehabt?«
    Sie beachtete ihn nicht. Inzwischen schien sie sich nur noch für Yeshe zu interessieren, als würde sie in ihm jemanden sehen, den niemand sonst erkennen konnte, Yeshe selbst eingeschlossen.
    »Wer würde ihn holen? Wovor hat er Angst gehabt?« fragte Yeshe. »Ankläger Jao?«
    »Nicht Jao. Jao war gut zu ihm. Hat ihm manchmal zusätzliche Lebensmittelkarten gegeben. Ließ ihn manchmal seine Kleidung tragen.«
    »Wer dann?«
    Sie runzelte die Stirn und musterte Yeshe durchdringend. »Deine Kräfte sind nicht geschwunden«, sagte sie. »Du bist davon überzeugt. Aber sie liegen lediglich verborgen.«
    Yeshe wich einen Schritt zurück, als würde die Frau ihm Angst einflößen. »Wo ist Balti?« fragte er. Seine Stimme hatte einen flehentlichen Unterton angenommen.
    »Ein Junge wie der steigt auf. Oder fällt zurück.« Sie lachte, als sie über ihre Worte nachdachte, und sah den Hirten an. »Rauf oder runter«, wiederholte sie und lachte erneut. Dann wandte sie sich wieder an Yeshe. »Auch falls man ihn geholt hat, wird er dennoch zurückkehren. Er wird als Löwe zurückkehren. Denn genau das widerfährt den Sanftmütigen. Er wird als Löwe zurückkehren und uns alle in Stücke reißen, die wir ihn enttäuscht haben.«
    Shan ging

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