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Der fremde Tibeter

Titel: Der fremde Tibeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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hätte er ihn sich bei den Toten ausgeborgt. Als er den Sack in Yeshes Hand bemerkte, wich die Strenge aus seiner Miene. Zwei andere Männer traten auf Yeshe zu und streckten mit feierlicher Geste die Arme aus. Als Yeshe ihnen den Sack gab, nickten sie ihm mitfühlend zu, nur um im nächsten Moment verwirrt dreinzuschauen. Einer der Männer sah in den Sack und holte lachend einen Apfel daraus hervor. Seine Gefährten fielen in das Gelächter ein, und er warf den Apfel in den Kreis der Männer. Das war nicht die Art von kleinem Jutepaket, das den ragyapas normalerweise überbracht wurde, begriff Shan plötzlich, keines der winzigen Bündel des Todes, die sogar den Ausbeinern verhaßt sein mußten.
    Yeshes Handlung entschärfte die Situation. Weitere Äpfel flogen durch die Luft, und die Männer holten Taschenmesser hervor und begannen, Stücke der Früchte untereinander zu verteilen. Die längeren Klingen blieben den geheiligten Aufgaben vorbehalten. Shan besah sich die Werkzeuge. Er entdeckte kleine Messer, deren Klingen in Haken endeten. Lange Messer zum Häuten. Grobe Äxte, wie man sie vielleicht schon vor zwei Jahrhunderten geschmiedet hatte. Die Hälfte der Klingen war problemlos dazu geeignet, einem Mann den Kopf vom Rumpf zu trennen.
    Kinder tauchten auf und waren ganz erpicht auf die Früchte.
    Von Shan hielten sie sich fern, aber um Yeshe scharten sie sich mit großen, glücklichen Augen.
    »Wir kommen von der Buchhandlung in der Stadt«, verkündete Shan.
    Die Kinder reagierten nicht darauf, aber die Männer waren sofort ganz Ohr. Leise tauschten sie einige Worte aus, und dann lief einer von ihnen den Hügel hinter dem Dorf hinauf.
    Die Kinder rückten Yeshe immer näher, und auf einmal schien er ganz interessiert an ihnen zu sein. Er kniete nieder, um einem der Kinder den Schuh zuzubinden, und inspizierte dabei sorgfältig die Kleidung des Jungen. Dann stürzte sich die ganze Horde auf Yeshe und warf ihn zu Boden. Einige der älteren Jungen zogen Spielzeugmesser aus Holz und vollführten unter hysterischem Gelächter sägende Bewegungen an seinen Gelenken.
    Shan sah dem Getümmel nur kurz zu und richtete dann seine Aufmerksamkeit auf den Läufer. Schon bald wurde klar, daß der Mann einen Felsen ansteuerte, der aus der niedrigen Kammlinie oberhalb der Ansiedlung hervorragte. Shan folgte dem Mann und hielt dann inne, als ihm die Vögel auffielen. Mehr als ein Dutzend von ihnen, zumeist Geier, kreisten hoch oben am Himmel. Andere, sowohl große als auch kleine Raubvögel, saßen entlang des Wegs auf den Ästen der verkrüppelten Bäume. Sie wirkten seltsam zahm, als würde das Dorf ebensosehr ihnen wie den ragyapas gehören. Ihre Blicke folgten dem Läufer mit trägem Interesse.
    Es hieß Himmelsbegräbnis. Die schnellste Beseitigung der körperlichen Überreste der menschlichen Existenz. In einigen Teilen Tibets wurden die Leichen den Flüssen übergeben, weshalb es verpönt war, Fisch zu essen. Shan hatte gehört, daß in den Regionen, die nach wie vor eng mit Indien verbunden waren, rituelle Opferungen praktiziert wurden. Doch für die meisten gläubigen Buddhisten in Tibet gab es nur eine einzige Möglichkeit, das Fleisch loszuwerden, das nach dem Ende einer Inkarnation übrigblieb. Die Tibeter konnten nicht ohne die ragyapas leben. Aber mit ihnen leben konnten sie auch nicht.
    Als der Läufer sein Ziel erreichte, erschien oben auf dem Kamm ein weiterer Mann, der einen langen Stiel in der Hand hielt, an dessen Ende sich eine breite Klinge befand. Er war mittleren Alters und trug eine Wintermütze des Militärs, deren wattierte Ohrenklappen zu beiden Seiten seines Kopfes wie kleine Schwingen abstanden. Shan setzte sich auf einen Felsblock und wartete. Mißtrauisch behielt er die Vögel im Auge.
    Der Mann musterte Shan argwöhnisch und kam langsam näher. »Keine Touristen«, schimpfte er mit hoher Stimme. »Sie sollten besser gehen.«
    »Das Mädchen in der Buchhandlung stammt aus diesem Dorf«, erwiderte Shan übergangslos.
    Der Mann starrte ihn mit grimmiger Miene an, senkte dann die Klinge und zog einen Lappen hervor, um feuchte, rosafarbene Fetzen davon abzuwischen. Dabei behielt er Shan im Auge, nicht die Klinge. »Sie ist meine Tochter«, räumte er ein. »Es ist mir nicht peinlich.«
    »Es besteht keine Veranlassung, sich zu schämen. Aber es war eine ziemliche Überraschung für mich, daß einer Ihrer Leute in der Stadt arbeitet.« Er wußte, daß er die Arbeitspapiere gar nicht erst zu erwähnen

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