Der fremde Tibeter
Aufenthaltsorte.
Während der Hirte damit beschäftigt war, fiel Shan ein neues Geräusch aus einem der Nachbarzelte auf. Es war eines der Rituale, die er bei der 404ten gelernt hatte. Obwohl die Straßen bereits schlammig waren, betete jemand inständig um Regen.
Feng brachte Decken aus dem Wagen, und die drei Männer übernachteten bei den Kindern. Als im Morgengrauen die Ziegen meckernd danach verlangten, gemolken zu werden, brachen die drei Gefährten wieder auf. Shan legte eine der Decken zusammen und ließ sie als Geschenk am Eingang des Lagers zurück.
Im Wagen lag Pemu schlafend auf der Rückbank.
»Ich werde euch begleiten«, sagte sie und rieb sich die Augen. »Meine Mutter hat zum Dronma-Klan gehört. Ich werde meine Cousins besuchen.« Sie rückte zur Seite, um Platz für Shan zu machen, und bot ihm ein Stück Brot an.
Die Entfernungen waren nicht allzu groß. Pemu war nicht auf diesen Wagen angewiesen, um ihre Cousins zu besuchen.
Vielleicht war es eine Probe, überlegte Shan, eine Herausforderung. Eine Streife der Öffentlichen Sicherheit hätte unter keinen Umständen einen Passagier mitgenommen.
Bis zum Vormittag hatten sie drei der Täler überprüft und die Hänge mit Ferngläsern abgesucht, aber ohne Erfolg. Der Himmel verdunkelte sich. Die Hirten hatten um Regen gebetet. Auf einmal wurde ihm der Grund dafür klar.
»Deine Leute haben gestern einen Helikopter gesehen, nicht wahr?« fragte er das Mädchen, das angestrengt aus dem Fenster starrte.
»Der Helikopter ist immer schlecht«, antwortete sie, als gäbe es nur eine einzige dieser Maschinen. »Als ich klein war, ist er einmal zu uns gekommen.«
Shan sah sie fragend an.
Pemu biß sich auf die Lippe. »Es war ein sehr schlimmer Tag. Zuerst haben wir gedacht, die Chinesen hätten ein neues Gerät erfunden, um Donner zu machen. Doch es war kein Donner. Neben dem Lager sind sie gelandet. Ich war erst vier Jahre alt.« Sie schaute wieder nach draußen. »Es war ein sehr schlimmer Tag«, wiederholte sie und starrte blicklos in die Ferne.
Als sie einen Felsvorsprung entlang des Wegs erreichten, rutschte Pemu auf ihrem Sitz nach vorn. Nachdem der Pfad in eine kleine, zerklüftete Felsschlucht abgebogen war, bat sie darum, aussteigen zu dürfen. »Um die Steine wegzuräumen«, sagte sie. »Ich werde vorausgehen.«
Doch Shan sah keine Steine. Fengs Hand legte sich instinktiv auf die Pistole, und plötzlich begriff Shan, daß Pemu mitgekommen war, um als Schild zu dienen und sie zu beschützen. Kurz darauf schien auch Feng es zu verstehen. Er nahm die Hand von dem Holster und konzentrierte sich darauf, mit dem Wagen so dicht wie möglich hinter dem Mädchen zu bleiben. Langsam krochen sie voran. Nervöses Schweigen machte sich breit.
Shan glaubte, ein Stück voraus ein metallenes Schimmern bemerkt zu haben. Das Mädchen fing an, laut zu singen. Das Schimmern verschwand. Vielleicht war es eine Waffe gewesen. Vielleicht aber auch ein Stück Kristall, das einen Sonnenstrahl reflektierte.
Als sie die Schlucht verließen, kehrte Pemu zum Wagen zurück. Sie wirkte sehr erschöpft und rieb sich den Bauch. Dann fing sie wieder an zu singen, diesmal für ihr Baby.
»Mein Onkel ist in Indien«, sagte sie plötzlich. »In Dharamsala beim Dalai Lama. Er schreibt mir Briefe. Er sagt, der Dalai Lama fordere uns auf, dem Pfad der Friedfertigkeit zu folgen.«
Sie hätten das kleine schwarze Zelt im fünften Tal beinahe übersehen. Es lag im Schatten eines Vorsprungs versteckt, und Pemu benötigte fast eine Stunde, um Shan und Yeshe die steilen Serpentinen hinaufzugeleiten, die zu dem Lager führten. Neben dem Zelt hatte man an einem Pfosten drei Schafe angeleint. Ihre Ohren waren mit roten Bändern versehen. Ein riesiger langhaariger Hund, ein Hirten-Mastiff, saß quer vor dem Eingang des Zelts. Aufmerksam verfolgte er jede Bewegung der Fremdlinge mit den Augen und fletschte die Zähne, als sie das schwelende Lagerfeuer erreichten.
»Aro! Aro!« rief Pemu und trat vorsichtig einen Schritt näher an die Feuerstelle heran.
»Wer ist da?« fragte eine rauhe Stimme aus dem Innern des Zeltes. Direkt über dem Hund erschien ein kleines dunkelhäutiges Gesicht. »Schon gut, Pok«, sagte der Mann zu dem Tier. »Die sehen nicht besonders furchterregend aus.« Er lachte und verschwand für einen Moment.
Dann kam er auf einer Krücke nach draußen. Sein linkes Bein war unterhalb des Knies amputiert. »Pemu?« sagte er und nahm das Mädchen genau in Augenschein.
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