Der fremde Tibeter
»Bist du das, Cousine?« Er schien ganz gerührt zu sein.
Das Mädchen nahm einen Laib Brot aus dem Beutel, den sie um ihre Taille trug, und reichte ihn dem Mann. »Das ist Harkog«, sagte sie und stellte ihn Shan vor. »Harkog und Pok sind für dieses Gebiet hier verantwortlich. Wir sind uns nicht sicher, wer von beiden der Anführer ist.«
Harkogs Mund öffnete sich zu einem schiefen Grinsen und enthüllte lediglich drei Zähne. »Zucker?« fragte er Shan plötzlich. »Hast du Zucker?«
Shan kramte in der Tasche herum, die Yeshe aus dem Wagen mitgebracht hatte, und fand einen überreifen Apfel, der schon ganz braun war. Der Mann nahm das Obst stirnrunzelnd entgegen. Dann hellte sein Gesicht sich auf. »Touristen? Auf dem Berg ist ein Platz mit großer Macht. Ich kann euch hinbringen, auf einem geheimen Pfad. Geht dorthin, sprecht Gebete. Wenn ihr nach Hause kommt, werdet ihr Babies machen. Funktioniert immer. Fragt Pemu«, fügte er mit heiserem Lachen hinzu.
»Wir sind auf der Suche nach Ihrem Bruder. Wir wollen ihm helfen.«
Der unbeschwerte Gesichtsausdruck des Mannes verschwand. »Ich habe keinen Bruder. Mein Bruder ist von dieser Welt gegangen. Es ist zu spät, um Balti zu helfen.«
Shans Mut sank. »Balti ist gestorben?«
»Kein Balti mehr«, sagte Harkog und klopfte sich mit der Faust vor die Stirn, als verspürte er großen Kummer.
Pemu schlug die Zeltklappe auf. Im Innern saß eine entfernt menschliche Gestalt, die leere Hülle eines Mannes mit ausgemergeltem Gesicht und den schwarzgeränderten Augenhöhlen eines Totenschädels. »Nur sein Körper ist hier«, sagte Harkog. »Es ist nicht viel von ihm übrig, seit ein paar Tagen schon. Er bleibt wach. Tag und Nacht, mit nichts als den Mantras.« Er musterte den Rosenkranz, der an Yeshes Gürtel hing. »Heiliger Mann?« fragte er mit neuem Interesse.
Yeshe erwiderte nichts, trat aber näher an das Zelt heran. »Balti Dronma. Wir müssen mit Ihnen sprechen.«
Der Bruder erhob keine Einwände, als Shan und Yeshe das Zelt betraten und sich hinsetzten.
Pemu folgte ihnen. »Er ist ja mehr tot als lebendig«, flüsterte sie entsetzt.
»Wir haben Fragen«, sagte Shan ruhig. »Über jene Nacht.«
»Nein«, protestierte Harkog. »Er war bei mir. In all diesen Nächten.«
»Welche Nächte?« fragte Shan.
»In allen Nächten, die gemeint sein könnten.«
»Nein«, erwiderte Shan geduldig. »Die letzte Nacht in Lhadrung hat er mit Ankläger Jao verbracht. Als Jao ermordet wurde.«
»Ich weiß nichts von einem Mord«, murmelte Harkog.
»Der Ankläger. Jao. Er wurde ermordet.«
Harkog schien ihn nicht zu hören. Er starrte seinen Bruder an. »Er ist gerannt. Er ist gerannt und gerannt. Wie ein Schakal ist er gerannt. Tagelang ist er gerannt. Dann eines Morgens sehe ich ein Tier unter einem Felsen. Riecht wie eine sterbende Ziege, hat der Hund gesagt. Ich habe meinen Arm ausgestreckt und Balti hervorgezogen.«
»Wir sind aus Lhadrung hergekommen, weil wir wissen müssen, was er in jener Nacht gesehen hat.«
»Sprich ein Mantra«, sagte Harkog plötzlich zu Yeshe. »Schütze ihn vor den Dämonen, während er schläft. Ruf seine Seele zurück, damit er sich ausruhen kann. Danach wird er vielleicht sprechen.«
Yeshe entgegnete nichts, schob sich aber unbeholfen auf den Platz neben Balti.
Zufrieden verließ Harkog das Zelt.
»So wie du mein Baby gesegnet hast«, sagte Pemu zu Yeshe.
Und wieder warf er Shan einen flehentlichen Blick zu. »Es tut mir leid«, sagte er zweimal, erst zu Shan, dann zu der Frau. »Ich bin nicht in der Lage, das zu tun.«
»Ich weiß noch, was die Frau bei der Garage gesagt hat«, erinnerte Shan ihn. »Die Kräfte sind nicht geschwunden, sie haben nur ihren Mittelpunkt verloren.«
Pemu drückte sich den Rücken seiner Hand an die Stirn.
Yeshe stöhnte leise auf. »Warum?«
»Weil er stirbt.«
»Und ich soll ein Wunder vollbringen?«
»Die Medizin, die dieser Mann braucht, kann ihm kein Arzt geben«, sagte Shan.
Pemu hielt weiterhin Yeshes Hand. Er blickte sie mit einem neuen Ausdruck der Klarheit an. Vielleicht, dachte Shan, war das Wunder bereits unterwegs.
Shan setzte sich mit dem Hirten draußen hin und sah Pemu dabei zu, wie sie das Feuer anfachte und Tee zubereitete. Ein Donnerschlag ließ die Luft um sie herum erzittern, und ein Regenvorhang kam das Tal hinauf auf sie zu. Während Harkog eine schützende Plane über der Feuerstelle errichtete, erklang aus dem Innern des Zeltes der Beginn einer Litanei.
Shan
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