Der fremde Tibeter
sagte Yeshe mit hohler Stimme. »Gerade eben. Der Major hatte die Arbeitspapiere bereits auf meinen Namen ausgestellt, für einen echten Posten im Sekretariat des Büros für Öffentliche Sicherheit in Lhasa, vielleicht sogar in Sichuan. Es war alles schon unterschrieben.«
»Sie haben abgelehnt?«
Yeshe blickte zu Boden. Die Verzweiflung war ihm deutlich anzusehen. »Ich habe gesagt, ich sei zur Zeit ziemlich beschäftigt.«
»Das kann doch nicht wahr sein!« keuchte Feng.
»Er hat gesagt, entweder jetzt oder nie. Er wollte, daß ich ihm Ihre Unterlagen über den Fall beschaffe. Ich habe gesagt, das sei leider nicht möglich.« Er sah Shan an, als warte er auf eine Äußerung, aber Shan wußte nicht, wie er reagieren sollte. Mit Zustimmung? Mitleid? Angst?
»Während der letzten paar Tage habe ich manchmal gedacht, daß es vielleicht doch stimmt, was Sie gesagt haben«, fuhr Yeshe fort. »Daß unschuldige Menschen sterben werden, falls wir nichts unternehmen.«
In Sergeant Fengs Blick lag etwas völlig Ungewohntes, als er Yeshe plötzlich ansah. Einen Moment lang glaubte Shan, es sei ein gewisser Stolz. »Ich kenne diesen Jungen Balti«, sagte Feng plötzlich. »Er hat niemandem je etwas zuleide getan.«
Shan bemerkte, daß beide Männer ihn erwartungsvoll anblickten. »Dann müssen wir ihn eben früher finden als die anderen«, sagte er und öffnete die Klappe zum Laderaum des Wagens, um einen Haufen alter Kleidungsstücke zu durchwühlen. Er fand ein zerlumptes Hemd und hielt es Feng abschätzend vor die Schultern.
Die langgestreckten, zunehmend höheren Gebirgskämme bildeten eine achtzig Kilometer lange Treppe, die auf das Hochplateau hinaufführte. Bis sie den Aufstieg endlich bewältigt und eines der Nomadenlager ausfindig gemacht hatten, war es Abend. Sie hatten die drei Zelte schon aus einigen Kilometern Entfernung gesehen, als sie auf das Plateau fuhren, aber die flachen, grauen Formen waren ihnen wie Felsblöcke vorgekommen, bis sie die lange Reihe Ziegen entdeckten, die dicht daneben an ein Halteseil gebunden war. Die Hörner der Tiere waren ebenfalls am Seil fixiert, damit sie beim Melken stillhalten würden. Die gedrungenen Zelte aus Yakfell waren mit Pflöcken und Lederriemen am Boden verankert, was nur noch mehr zu dem Eindruck beitrug, es handle sich um zerfurchte Felsen, an denen seit Jahrhunderten der Wind nagte.
Sie ließen den Wagen in fünfzig Metern Entfernung vom Lager stehen und gingen zu Fuß weiter auf die Zelte zu. Sergeant Fengs Uniform und Waffengürtel wurden von dem langen Hemd verdeckt.
Es war keine Menschenseele zu sehen. Hinter den Zelten flatterten Gebetsfahnen. Butterfässer standen herum. Dicht neben den Unterkünften hatte man getrockneten Dung aufgeschichtet. Auf der anderen Seite des Lagers stand eine kleine Herde Yaks und weidete das Frühlingsgras ab. Daneben graste eine Ziege, die nicht angebunden war und ein schmales Band am Ohr trug. Sie war freigekauft worden. Am Eingang des größten Zeltes hing über einem Rahmen aus Weidenruten, in den man mit Garn geometrische Muster geflochten hatte, der Schädel eines Schafes. Shan hatte gesehen, daß die khampas der 404ten die gleichen Muster aus den Fäden ihrer Decken flochten. Es war eine Geisterfalle.
Bei den angeleinten Ziegen bellte ein Hund, ein angepflockter Welpe, der auf einmal vorsprang und ein Butterfaß umwarf. Aus einem Schaffellbündel neben dem ersten Zelt ertönte das Geschrei eines Babys, und im selben Moment stürzten die Bewohner des Zeltes nach draußen. Zuerst erschienen zwei Männer, von denen einer eine Schaffellweste trug und der andere eine schwere chuba, den dicken Übermantel aus Schaffell, den viele tibetische Nomaden bevorzugten. Hinter ihnen konnte Shan mehrere Frauen entdecken, die zusammengestückelte Überkleider trugen, deren einst leuchtende Farben inzwischen durch Ruß und zähen Schmutz gedämpft wurden. Ein Kind, ein Junge von höchstens drei Jahren, kam ebenfalls heraus. Sein Kinn und sein Mund waren mit Joghurt verschmiert.
Der Mann mit der Weste, dessen ledriges Gesicht voller kleiner Falten war, nickte den Neuankömmlingen mürrisch zu, verschwand dann wieder im Zelt und kehrte mit einem fleckigen Umschlag voller Papiere zurück. Er streckte ihn Shan entgegen.
»Wir sind nicht hier, um die Geburten zu überprüfen«, sagte Shan peinlich berührt.
»Sie möchten Wolle kaufen? Es ist zu spät. Wolle gab es letzten Monat.« Der Mann hatte nur noch die Hälfte seiner Zähne. Mit
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