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Der fremde Tibeter

Titel: Der fremde Tibeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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lauschte dem eintönigen Brummen von Yeshes Stimme eine Stunde lang und ging dann los, um Feng und ihre Vorräte aus dem Wagen zu holen. Als sie vom Fahrzeug aufbrachen, hielt der Sergeant auf einmal inne und rannte zurück. »Ich muß den Wagen verstecken«, sagte er über die Schulter gewandt. Er sagte nicht, vor wem.
    Als sie oben eintrafen, hatte der Regen aufgehört. Yeshe befand sich noch genau da, wo Shan ihn zurückgelassen hatte. Er saß vor Baltis Lager und wiederholte immer wieder das Schutzmantra, und er würde nicht damit aufhören, bis die Tat vollbracht war. Niemand, nicht einmal Yeshe wußte, wann dieser Zeitpunkt gekommen sein würde.
    Als die Sonne unterging, sammelten sie Feuerholz und kochten einen Eintopf. Als der Himmel wieder aufklarte, aßen sie schweigend, und während der ganzen Zeit drang aus dem Zelt Yeshes eintönige Stimme an ihre Ohren. Shan saß bei Pemu und beobachtete, wie der Vollmond über den östlichen Himmel wanderte. In einiger Entfernung schrie ein einsamer Ziegenmelker. Nebelschwaden krochen die Hänge hinab. Feng legte sich mit einer Decke nieder und schnarchte binnen weniger Minuten. Yeshes Stimme brummte weiter vor sich hin. Pemu fand ein Schaffell, wickelte sich darin ein und starrte ins Feuer. Am Rand des flackernden Lichtkreises saßen Harkog und Pok der Hund und schauten in die Dunkelheit. Yeshes Litanei dauerte nun schon fast sechs Stunden.
    Shan fühlte sich von allem losgelöst. Von dem Bösen, das in Lhadrung lauerte. Von dem Gulag, in das er zurückkehren würde. Sogar der allgegenwärtige Arm von Minister Qin und Peking schienen in diesem Moment Teil einer anderen Welt zu sein.
    Aus seiner Tasche holte Shan das Reispapier und den Tintenstift, die er auf dem Markt gekauft hatte. Es war schon so lange her. So viele Festtage waren ungenutzt verstrichen. Er rieb den Stift und rührte mit ein paar Tropfen Wasser in einem gekrümmten Stück Rinde die Tinte an. Dann übte er und zog mit dem Pinsel kleine Striche in die Luft, überlegte sich vorher genau, was er schreiben wollte, bis er schließlich das Blatt vor sich hinlegte und mit der Arbeit begann. Er bediente sich der eleganten alten Ideogramme, die er als Junge gelernt hatte.
    Lieber Vater, begann er, bitte verzeih mir, daß ich schon seit so vielen Jahren nicht mehr geschrieben habe. Seit meinem letzten Brief bin ich zu einer langen Reise aufgebrochen. Meine Seele schrie nach Nahrung. Dann traf ich einen weisen Mann, der diesen Hunger stillte. Die Pinselstriche mußten kühn und flüssig erfolgen, oder sein gelehrter Vater wäre enttäuscht. Wenn ein Wort richtig geschrieben ist, pflegte sein Vater zu sagen, dann sollte es wie Wind über einem Bambusfeld aussehen. Anfangs war ich traurig und ängstlich. Doch inzwischen ist die Trauer verflogen. Und Angst habe ich nur noch vor mir selbst. Früher, ganz allein in seiner Wohnung in Peking, hatte er oft Briefe geschrieben. Er las die Ideogramme ein weiteres Mal durch, war aber noch nicht zufrieden. Ich sitze auf einem namenlosen Berg, werde vom Nebel eingehüllt und denke an Dich, fügte er hinzu und unterschrieb so, wie sein Vater ihn genannt hätte. Xiao Shan.
    Aus dem zweiten Blatt faltete er einen Umschlag für seinen Brief, zog ein glimmendes Stück Holz aus dem Feuer und trat hinaus in die Dunkelheit. Im Mondschein ging er bis zu einem kleinen Vorsprung, der sich über dem Tal erhob, schichtete zwischen zwei Steinen etwas getrocknetes Gras auf und legte den Brief darauf. Er schaute zu den Sternen empor, verneigte sich vor dem Brief und entzündete das Gras mit der Glut aus dem Lagerfeuer. Als die Asche zum Himmel aufstieg, blickte er ihr ehrfurchtsvoll nach und hoffte, er würde sehen, wie sie vor dem Mond vorbeizog.
    Er verweilte eine Zeitlang an diesem Ort, rundherum von Sternen eingehüllt. Ingwergeruch stieg ihm in die Nase, und er lauschte in der Erinnerung seinem Vater. Inzwischen wußte er, daß die freudigen Erlebnisse in seinem Gedächtnis bewahrt geblieben waren.
    Auf halbem Weg zurück zum Lager erschrak er sich auf einmal fürchterlich, als eine schwarze Gestalt vor ihm auf dem Pfad erschien. Es war Pok. Der riesige Hund saß da und versperrte ihm den Weg.
    »Man sagt, es wäre ein Reitunfall gewesen, aber das stimmt nicht«, erklang eine Stimme aus den Schatten neben dem Pfad. Harkog. Er klang auf merkwürdige Weise entschlossen. »Es war eine Landmine. Ich bin vor der Armee weggelaufen. Plötzlich wurde ich durch die Gegend gewirbelt. Die

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