Der fremde Tibeter
Regale aus roh behauenem Holz, die an den Wänden standen. Auf ihnen befanden sich unzählige kleine Tongefäße. »Ein Teil des Sandes von jedem hier jemals angefertigten Mandala wurde aufgehoben. Er ist sehr heilig und mächtig.«
Sie folgten einem Gang in einen größeren Raum mit vier Fenstern, den anderen rechteckigen Öffnungen, die sie von unten gesehen hatten. Am Rand der Kammer standen breite Tische, deren schräge Platten aus grobem Holz gefertigt waren. Die meisten Plätze blieben frei. Lediglich drei Mönche und eine Nonne waren an der Arbeit, ein jeder umgeben von Butterlampen und Behältern mit Pinseln und Tintensteinen.
Shan bemerkte die Hochachtung, mit der Tsomo von den Anwesenden gemustert wurde, aber auch die nervösen Blicke, die man ihm selbst und Yeshe zuwarf. Zwar hatte man den Mönchen gesagt, daß Fremde kommen würden, doch offenbar waren sie unsicher, wie sie sich verhalten sollten. Sie entschieden sich dafür, zu schweigen und es Tsomo zu überlassen, die prächtigen Manuskripte zu erläutern, mit deren Anfertigung sie beschäftigt waren. Ihre Vorlagen waren alte Bambusplatten und abgenutzte Gebetbücher, deren Inhalte sie auf lange schmale Seiten übertrugen, die man später nicht binden, sondern auf traditionelle Weise mit seidenen Umschlägen versehen würde. Über den Tischen lagen auf Regalen zahlreiche von ebendiesen Seidenpaketen. Man nannte sie potis, hatte Trinle ihm einst erklärt, Bücher, die in Gewänder gewickelt waren. Einer der Mönche arbeitete nicht mit Pinseln, sondern mit langen Beiteln und Meißeln. Er verzierte die langen Bretter, zwischen denen die potis verschnürt wurden. Shan blieb an dem Tisch stehen. Er war überrascht. Nicht wegen der komplizierten Details der Vögel und Blumen, die der Mönch schnitzte, sondern weil der Mann eine solche Schönheit erschaffen konnte, obwohl ihm ein Daumen fehlte.
Die Nonne stand auf und kam auf sie zu. »Die Geschichte eines jeden Klosters in Tibet«, sagte sie und deutete auf die hintere Wand. Ihre Stimme war rauh, als habe sie lange nicht gesprochen. »Da liegen Briefe des Großen Fünften an die kenpos, in denen Gelder für neue Kapellen angekündigt werden, und dort sind die originalen Baupläne für die Seilbrücke über den Drachenschlund.«
Tsomo zog Shan am Arm mit sich, während die Nonne den ehrfürchtig ergriffenen Yeshe an den Manuskripten entlang und weg von der Tür führte. Sie stiegen eine weitere Treppe empor und gelangten in eine Kammer, die tief im Innern des Berges lag. Sie wirkte wie ein Klassenzimmer. Im gesamten Raum gib es nur zwei Lampen, und die standen beide auf einem kleinen Altar. Am anderen Ende befanden sich Regale mit Töpferwaren, die zumeist zerbrochen waren; darüber hatte man Symbole an die Wand gemalt. Auf dem Boden lagen ein Teppich und einige Sitzkissen, auf denen zwei Mönche Platz genommen hatten.
Einer der Mönche wandte ihnen den Rücken zu und schaute zum Altar. Der andere, ein älterer, einfach gekleideter Mann mit verschmitzt funkelnden Augen, begrüßte sie mit einer leichten Verneigung. »Du bist überaus hartnäckig, Xiao Shan«, sagte der Mönch auf Mandarin. Hinter ihnen erklangen die hastigen Schritte nackter Füße. Drei Jungen in Schülergewändern kamen herein und setzten sich hinter den Mönch, der gesprochen hatte. Sie musterten Shan mit großen Augen und verblüfften Mienen.
»Weißt du, wir verdanken dir ein ziemliches Dilemma«, fuhr der alte Lama fort.
»Ich untersuche lediglich einen Mordfall.« Shans Blick richtete sich abermals auf die Symbole über den Töpferwaren. Erschrocken wurde ihm klar, wo er sie schon einmal gesehen hatte: als Kreidezeichen auf dem Vorsprung oberhalb der Drachenschlundbrücke.
»Ja, das wissen wir. Der Ankläger wurde nicht weit von hier ermordet. Der Einsiedler Sungpo sitzt in Haft. Die 404te befindet sich im Streik. Siebzehn Priester sind gefoltert worden. Einer der Häftlinge wurde hingerichtet. Das Büro für Öffentliche Sicherheit ist bereit, weitere Greueltaten zu begehen.«
»Sie wissen mehr über die 404te als ich«, sagte Shan verwundert. »Sind Sie der Abt dieser Einrichtung?«
Das Lächeln des Mannes schien sein gesamtes Gesicht einzunehmen. »Es gibt hier keinen Abt. Mein Name ist Gendun. Ich bin bloß ein einfacher Mönch.« Während er sprach, ließ er einen Rosenkranz durch die Finger gleiten, dessen Perlen aus einem dunklen, rötlichen Holz gefertigt waren. »Wird man dich dorthin zurückschicken, wenn du fertig
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