Der fremde Tibeter
Er vollführte das kjangchag, das fortwährende Aufstehen, Stehen, Knien und Niederwerfen, das die demütige Untertänigkeit des Pilgers bezeugen sollte, mit einer Leichtigkeit, als würde er Freiübungen verrichten.
»Ich weiß immer noch nicht, wonach wir eigentlich suchen«, sagte Yeshe neben ihm.
»Ich auch nicht. Nach etwas Außergewöhnlichem. Vielleicht nach dem Pilger.«
Yeshe zuckte die Achseln. »Jedesmal, wenn wir hier sind, sehen wir einen Pilger. In Tibet ist das so normal wie der Regen.«
»Und stellt daher eine perfekte Tarnung dar.« Shan begriff plötzlich, was er übersehen hatte. »Gehen wir«, rief er. Nach wie vor war er zu keiner sicheren Erkenntnis gelangt, aber er wollte wissen, wohin der Pilger unterwegs war.
In schnellem Tempo folgten sie dem Verlauf der Gratlinie und ließen den Pilger nicht aus den Augen. Nach einer Stunde hatten sie ihn beinahe eingeholt und legten eine kurze Rast ein, während sie der Gestalt dabei zusahen, wie sie den Abstieg in das nächste Tal begann.
Das rote Gewand tauchte am Fuß des Kamms auf und verschwand hinter einer langen Felsformation. Shan und Yeshe teilten sich eine Flasche Wasser und warteten darauf, daß der Pilger auf der anderen Seite der Felsen wieder zum Vorschein kommen würde.
»Meine Mutter hat auch eine Pilgerfahrt unternommen«, sagte Yeshe. »Nach dem Tod meiner Schwester. Ich war zu der Zeit bereits im Kloster. Sie ist zum Berg Kailas aufgebrochen. Zum heiligen Berg. Sie hatte keinen guten Zeitpunkt gewählt. In den Bergen gab es späte Schneestürme und außerdem Truppenbewegungen wegen des Aufstands.«
»Solche Widrigkeiten machen die Leistung noch ehrenvoller.«
»Wir haben sie nie wiedergesehen. Jemand sagte, sie wäre eine Nonne geworden, andere behaupteten, sie hätte versucht, die Grenze zu überschreiten. Ich glaube, es war vermutlich sehr viel unkomplizierter. Sie ist einfach gestorben.«
Shan wußte nicht, was er sagen sollte. Er reichte Yeshe die Flasche und nahm das Fernglas. »Der Pilger ist nicht wieder aufgetaucht«, stellte er fest. Feng hatte ihm für diesen Tag seine Armbanduhr geliehen. Shan starrte verwirrt auf das Zifferblatt.
»Wann ist er hinter diesen Felsen verschwunden?«
»Vor zehn, fünfzehn Minuten.«
Shan sprang auf, ließ Yeshe, der noch immer die Flasche in der ausgestreckten Hand hielt, einfach stehen und lief den Abhang hinunter.
Er stieß seitlich auf den im Verlauf vieler Jahrhunderte ausgetretenen Pilgerpfad, der sich zwischen den Felsblöcken hindurchschlängelte und zu den wogenden Heideflächen des Hochtals führte. Als Yeshe ihn einholte, hatte Shan bereits hinter den Felsen nachgesehen und den Weg auf der Suche nach einem zweiten Pfad oder einer Abkürzung zurückverfolgt. Vergebens.
Einige Minuten später rief Yeshe aufgeregt und wies auf ein kleines Loch, einen niedrigen, knapp zwei Meter langen Tunnel, der von einer Platte gebildet wurde, die zerbrochen und zwischen zwei steile Felswände gestürzt war. Die Öffnung war kaum breit genug, um hineinzukriechen. Doch als Shan eintraf und hineinblickte, war Yeshe verschwunden.
Das Loch, so stellte er fest, endete nicht nach zwei Metern, sondern bog im rechten Winkel nach links ab. Shan quetschte sich hinein und folgte Yeshes undeutlicher Gestalt etwa fünfzehn Meter weit, bis die Decke des Tunnels zunächst anstieg und dann ganz verschwand. Sie befanden sich in einem schmalen, gewundenen Durchgang zwischen den Felswänden, dem sie in eine kleine Schlucht folgten.
»Wir sollten nicht hier sein«, flüsterte Yeshe nervös. »Es ist ein heiliger Ort. Er wird beschützt...«
Seine Worte verklangen, und seine Stimme verstummte angesichts des beeindruckenden Anblicks, der sich ihm bot. Vor ihnen, nur einen Steinwurf weit entfernt, erhob sich eine steile, hundertfünfzig Meter hohe Felswand. Diamanthelle Sonnenstrahlen schnitten durch die Schatten der Schlucht und verstärkten das Gefühl der Erhabenheit. In etwa dreißig Metern Höhe waren fünf große rechteckige Öffnungen als Fenster in den Fels gemeißelt. Darüber befanden sich drei kleinere, offenbar ebenfalls künstlich geschaffene Löcher, gefolgt von einer letzten, noch kleineren Öffnung fast neunzig Meter über ihnen. Aus den fünf Fenstern ragten Stangen, an denen leuchtendbunte Pferdefahnen hingen, riesige Banner von neun Metern Länge, die mit heiligen Symbolen geschmückt waren und im Wind flatterten.
Die Drachenklauen waren im Begriff, ihr Geheimnis preiszugeben, erkannte
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