Der fremde Tibeter
waren, kniete Trinle sich neben ihnen auf den Boden und warf sich betend vor der Zelle in den Staub.
Niemand sprach, bis sie die lange Treppe wieder hinabgestiegen waren und erneut die kleine Kapelle betraten, in der Shan auf Trinle gestoßen war.
»Es ist schwer zu erklären«, sagte Trinle. »Der Große Fünfte sagte, der gomchen sei wie ein einzelner strahlender Diamant, der in einem riesigen Berg verborgen liegt. Als ich jung war, sagte unser Abt, der gomchen sei all das, was in uns zu sein versuche, aber ohne die Bürde des Wollens.«
»Du hast gesagt, es gebe einen heiligen Vertrauensposten, ein Kloster, das den gomchen beschützt.«
»Es ist uns stets eine große Ehre gewesen.«
Shan blickte verwirrt auf. »Aber dieser Ort hier ist nicht gerade ein gompa.«
»Nein. Nicht Yerpa. Nambe gompa.«
Shan starrte ihn an. »Aber Nambe gompa gibt es nicht mehr.« Choje war der Abt von Nambe gompa gewesen. »Es wurde von den Flugzeugen der Armee vernichtet.«
»Nun«, sagte Trinle mit seinem heiteren Lächeln, »die steinernen Wände wurden tatsächlich zerstört. Aber Nambe ist mehr als diese alten Mauern. Es gibt uns immer noch, und nach wie vor haben wir Yerpa gegenüber unsere heilige Pflicht zu erfüllen.«
Shan war nach dieser Eröffnung Trinles wie betäubt. Er dachte an Choje, der bei der 404ten ebenfalls seine heilige Pflicht tat, um Yerpa zu schützen. Dann bemerkte er, daß Tsomo neben ihm saß. »Er schreibt ganz wunderbar, wenn er nicht meditiert«, sagte Tsomo. »Über die Entwicklung der Seele.«
Shan erinnerte sich an das Manuskript in dem Vorraum. Der gomchen kommunizierte mit ihnen, indem er religiöse Traktate in das Manuskript schrieb. »Wie lange ist es her?« fragte Shan, noch immer von tiefem Respekt erfüllt. »Seit man die Schrauben festgezogen hat.«
Die Antwort schien Trinle schwerzufallen. »Zeit ist kein Maßstab für ihn«, sagte er. »Letztes Jahr hat er ein Gespräch mit dem Zweiten Dalai Lama aufgeschrieben. Als wäre er dabeigewesen, als hätte es sich gerade erst zugetragen.«
»Aber in Jahren gemessen«, ließ Shan nicht locker. »Wann hat er...«
»Vor einundsechzig Jahren«, sagte Tsomo. Seine Augen strahlten vor Freude.
»Die Welt sah damals noch ganz anders aus«, stellte Shan ehrfürchtig fest.
»Sie existiert immer noch. Für ihn. Er weiß nichts davon. Das ist eine der Regeln. Die Außenwelt ist irrelevant. Er denkt allein an die Buddhaschaft.«
»Nachts kann er die Sterne beobachten«, sagte Tsomo in eigenartig sehnsüchtigem Tonfall.
»Du meinst, er weiß nichts von..« Shan rang um die richtigen Worte.
»Den Sorgen der diesseitigen Welt?« bot Trinle an. »Nein. Sie kommen und gehen. Es hat schon immer Leid gegeben. Es hat schon immer Invasoren gegeben. Die Mongolen. Die Chinesen, mehrere Male. Sogar die Briten. Invasionen gehen vorbei. Sie haben keinen Einfluß auf unser Glück.«
»Glück?« fragte Shan mit erstickter Stimme.
Trinle schien über diese Frage aufrichtig überrascht zu sein. »Das Glück, in der Lage gewesen zu sein, die gegenwärtige Inkarnation in diesem heiligen Land zu verbringen.« Er musterte Shan. »Das Leid unseres Volkes ist für die Arbeit des gomchen nicht von Bedeutung«, sagte Trinle und klang dabei auf einmal besorgt. Es war, als sei er zu der Überzeugung gelangt, sein Besucher müsse beruhigt werden. »Man darf ihn nicht mit der Welt belasten. Deshalb hat es auch so viele Bedenken gegeben, nachdem du Tsomo zum erstenmal getroffen hattest.«
»Nachdem ich Tsomo getroffen hatte?«
»Es gab Beratungen. Wir fragten uns, ob er vergiftet worden war.«
»Falls es drinnen unwichtig ist, muß es auch draußen unwichtig bleiben, habe ich gesagt«, warf Tsomo ein.
Plötzlich verstand Shan mit schmerzlicher Klarheit. »Er könnte bald sterben, der gomchen.«
»Nachts können wir ihn husten hören«, sagte Trinle bedrückt. »In seiner Waschschüssel ist manchmal Blut. Wir haben ihm zusätzliche Decken angeboten. Er benutzt sie nicht. Wir müssen bereit sein. Tsomo ist der zehnte.«
Diese Worte ließen Shan erschaudern. Sprachlos starrte er den lebensprühenden, scharfsinnigen Jugendlichen an, den man bald für immer im Fels einschließen würde. Tsomo erwiderte seinen Blick mit einem breiten Lächeln.
Sie brachten Shan zurück in die Bibliothek, wo Yeshe noch immer mit großen Augen über den Manuskripten brütete. Als Trinle und Tsomo sich zu ihm gesellten, erschien Gendun an der Tür.
»Ich glaube, daß Ankläger Jao getötet
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