Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der fremde Tibeter

Titel: Der fremde Tibeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
Vom Netzwerk:
zu Shan und wirkte beinahe überrascht, daß sie ihm dieses Geständnis gemacht hatte. Ihr Blick wurde flehentlich. »Sagen Sie ihnen, sie sollen gehen.«
    »Wem?«
    »Den Soldaten. Sagen Sie Tan, daß wir es irgendwie anders schaffen werden, den Zeitplan einzuhalten.«
    »Es tut mir leid. Ich habe keinerlei Befehlsgewalt.«
    »Natürlich haben Sie das«, wandte Yeshe ein. »Sie sind ein direkter Vertreter von Oberst Tan und werden ihm jedes Fehlverhalten melden.« Yeshe schien hin und her gerissen zu sein. Dann rannte er auf die Soldaten zu. Er würde nicht zulassen, daß ein Zwischenfall bei der Mine den Abschluß seines Auftrags verzögerte. Schließlich hatte der Mann ein Ziel, erinnerte Shan sich.
    Die Soldaten ließen ihren Bulldozer immer wieder die Schaufel heben und senken, so daß die Maschine wie ein hungriges Ungeheuer wirkte, das gierig seine Beute verschlingen wollte. Kincaid lief hin und her, wies energisch auf die Teiche, die Berge und die Geräteschuppen.
    »Mr. Kincaid ist ein ungewöhnlich eifriger Mann«, stellte Shan fest. Er bemerkte Fowlers verwirrten Blick. »Für einen Bergbauingenieur.«
    »Tyler Kincaid ist ein Schatz. Er hätte überall für die Gesellschaft arbeiten können. New York. London. Kalifornien. Australien. Er hat sich für Tibet entschieden. Wir sind dreizehntausend Kilometer von zu Hause entfernt und versuchen, mit unerprobter Technik und einer unerprobten Belegschaft in unerprobtem Gelände eine Mine zu eröffnen. Bei so einem Projekt ist ein gewisser Arbeitseifer meines Erachtens unabdingbar.«
    »Sie sagen, er hätte überall arbeiten können. Weil er so qualifiziert ist?«
    »Erstens das und zweitens, weil seinem Vater die Firma gehört.«
    Shan beobachtete, wie Tyler Kincaid zum Anführer der Soldaten ging, ihn bei den Schultern packte und schüttelte. Seinem Vater gehörte das Unternehmen, und Kincaid arbeitete an dem zweifellos weltweit entlegensten und unzugänglichsten Außenposten der Firma. »Er hat etwas erwähnt. BDKs. Was bedeutet das?«
    »Das ist bloß seine Art, sich auszudrücken.«
    »Aber wen meint er damit?«
    »Die Bürokraten, schätze ich.« Sie erkannte, daß er sich damit nicht zufriedengeben würde, und zuckte die Achseln. »Ein BDK ist ein Beschissener Dreckskommunist«, erklärte sie und richtete dann ihre Aufmerksamkeit mit einem belustigten Grinsen wieder auf die Arbeiter.
    Yeshe tauchte vor den Soldaten auf und deutete in Richtung Shan. Die Schaufel des Bulldozers verharrte in der Bewegung, und die Soldaten schauten mit spürbarer Unsicherheit zum Wall. Kincaid nutzte die Atempause, um zum Verwaltungsgebäude zu rennen, aus dem er sogleich wieder mit Höchstgeschwindigkeit zurückkehrte. Er trug einen schwarzen Kasten bei sich. Fowler hob das Fernglas, gab einen kurzen amüsierten Laut von sich und reichte es dann an Shan weiter.
    Kincaid brachte einen tragbaren Kassettenrekorder. Er stellte ihn vor den Bulldozer hin und begann, amerikanische Rockmusik abzuspielen, und zwar dermaßen laut, daß Shan sie vom Wall aus hören konnte. Dann fing der amerikanische Ingenieur zu tanzen an.
    Im ersten Moment starrten ihn alle nur an. Dann lachte einer der Soldaten. Einer seiner Kameraden begann ebenfalls zu tanzen, dann einer der Tibeter. Alle anderen lachten jetzt auch.
    Fowler seufzte. »Danke«, sagte sie, als wäre Yeshes Einschreiten Shans Idee gewesen. »Krise abgewendet, Problem nach wie vor nicht gelöst«, sagte sie und machte sich auf den Rückweg zum Büro.
    Shan schloß zu ihr auf. »Haben Sie schon an einen Priester gedacht?« fragte er.
    »Einen Priester?«
    »Die Tibeter arbeiten nicht, weil sie glauben, daß auf irgendeine Weise ein Dämon erweckt wurde.«
    Fowler schüttelte bekümmert den Kopf und ließ den Blick über das Tal schweifen. »Irgendwie kann ich das alles gar nicht glauben. Ich kenne diese Leute. Sie sind keine Heiden.«
    »Das haben Sie mißverstanden. Die meisten glauben nicht etwa, daß irgendein Ungeheuer die Berge heimsucht, sondern daß das Gleichgewicht gestört wurde. Das daraus resultierende Ungleichgewicht bringt Böses hervor. Der Dämon ist lediglich eine Manifestation jenes Unheils. Es könnte die Gestalt einer Person, eines Vorfalls oder sogar eines Erdbebens annehmen. Wiederhergestellt werden kann das Gleichgewicht durch die richtigen Rituale, den richtigen Priester.«
    »Sie sagen, all das sei symbolisch gemeint? Der Mord an Jao war bestimmt kein symbolischer Akt.«
    »Da wäre ich mir nicht so

Weitere Kostenlose Bücher