Der freundliche Mr Crippen | Roman
ohne je einen Fuß auf die Kontinente hüben wie drüben zu setzen, war hier gewöhnlich in angenehmer Nähe zu einer Flasche Wodka anzutreffen. Es gab Besatzungsmitglieder, die Angst hatten, einen Mann, durch dessen Adern zur Hälfte Alkohol floss, mit einer scharfen Schere in die Nähe ihrer Ohren zu lassen, aber es war noch von keinen Unfällen berichtet worden, und so hatte Monsieur Dupuis seine Position samt freier Unterkunft seit so vielen Jahren inne, ohne dass sie jemals jemand infrage gestellt hätte. Carter musste warten, bis der Friseur wieder auftauchte, denn der Mann stand stocknüchtern oben auf Deck und wartete nervös auf die Ankunft seiner Vorräte für die vor ihnen liegende Reise.
»Jetzt schon ein Haarschnitt?«, fragte Dupuis überrascht, als er beim Betreten seines Salons den jungen Ersten Offizier mit den Händen in den Taschen dastehen und seine Besitztümer inspizieren sah. »Wir sind noch nicht einmal aus dem Hafen. Kann das nicht noch etwas warten?«
»Kapitän Kendall besteht darauf«, antwortete Carter. »Er sagte, mein Haar sei zu lang, und hat mich energisch hierherbefohlen.«
Dupuis verengte die Augen und legte den Kopf leicht zur Seite, als wolle er selbst beurteilen, ob der Haarschnitt des jungen Mannes tatsächlich eine Verletzung des guten Geschmacks darstellte. »Es ist nicht so lang, dass es nicht noch ein, zwei Tage warten könnte«, sagte er. »Ich wollte meine Dinge noch ordnen, bevor wir in See stechen.« Mit »Dinge« meinte er den Wodka, der für ihn angekommen war und den er gerne an unterschiedlichen Stellen seiner Kabine verstaute, um sich im Laufe der Reise so systematisch durch die verschiedenen Verstecke zu arbeiten, dass das Leeren der letzten Flasche mit der Ankunft auf der anderen Seite des Atlantiks zusammenfiel. Er achtete sorgfältig darauf, nicht zu viel auf einmal zu trinken, weil das nur Tage der Nüchternheit zur Folge hatte.
»Der Kapitän besteht darauf«, wiederholte Carter in einem Ton, der nahelegte, dass er die Kabine erst nach erfolgreicher Indienstnahme der Schere wieder verlassen würde. »Es tut mir leid«, fügte er hinzu.
»Also gut, also gut«, seufzte Dupuis und wandte sich dem Stuhl vor dem Spiegel zu. »Nehmen Sie Platz, wenn es Ihnen denn so viel bedeutet.«
Carter setzte sich und betrachtete sich im Spiegel, während der Friseur ihm ein Handtuch um den Hals legte und in einer Zigarrenschachtel voller Friseurutensilien nach einer speziellen Schere suchte. »Ich denke, der Alte hat bereits eine Abneigung gegen mich entwickelt«, sagte Carter, um die leere Luft zu füllen. »Also hielt ich es für das Beste, ihm aufs Wort zu folgen. Sonst würde ich nicht darauf bestehen, sie sofort geschnitten zu bekommen.«
»Ist schon gut«, sagte Dupuis, der ihm einfach nur die Haare schneiden und ihn möglichst schnell aus seiner Kabine verschwinden sehen wollte. »Ich kenne Sie allerdings noch gar nicht. Sind Sie neu?«
»Billy Carter. Ich gebe den Ersten Offizier.«
»Den Ersten Offizier?« Dupuis hielt verblüfft inne und sah Carter im Spiegel an. »Was ist mit Mr Sorenson?«
»Ist krank. Blinddarm. Liegt im Krankenhaus«, sagte Carter schnell und stakkatohaft. Dupuis schnalzte mit der Zunge und umfasste mit seinen dicken nikotingelben Fingern ein Büschel Locken des jungen Mannes.
»Das wird dem Kapitän nicht gefallen«, sagte er.
»Es scheint ihn … zu ärgern«, gab Carter zu.
»Nun, die beiden sind dicke Freunde«, sagte Dupuis. »Hängen ständig zusammen.« Er schnipselte schnell vor sich hin, ohne wirklich darauf zu achten, was er da machte, während die Locken zu Boden fielen.
»Nur ein bisschen kürzer«, sagte Carter nervös. Er war nicht einmal gefragt worden, was für einen Schnitt er wollte, und Dupuis schuf bereits vollendete Tatsachen.
»Nur etwas kürzer, natürlich«, sagte der Friseur. »À la Kendall. Ich denke, ich weiß, wie es der Alte mag.«
Carter versuchte, sich zu entspannen und den Friseur seine Arbeit machen zu lassen. Er dachte an seine Frau daheim und rechnete zum tausendsten Mal an diesem Tag die Termine in seinem Kopf durch. Wenn alles gut ging, würden sie Quebec am letzten Julitag, spätestens am 1 . August erreichen. Die
Montrose
selbst sollte die Rückreise erst eine Woche später antreten, aber die Canadian-Pacific-Leute hatten ihm versprochen, dass er an Bord eines der Schwesterschiffe nach Europa zurückkehren könne, das Quebec am dritten August verlassen würde. Damit standen die Chancen
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