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Der freundliche Mr Crippen | Roman

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Titel: Der freundliche Mr Crippen | Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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gut, dass er in einem Monat, etwa Mitte August, wieder zu Hause war. Das Baby sollte ein paar Wochen später kommen, also würde er die Geburt keinesfalls verpassen. Hätte das auch nur entfernt im Bereich des Möglichen gelegen, hätte er den Auftrag abgelehnt, ohne Ansehen der Konsequenzen.
    »Wie ist er denn so?«, fragte er, nachdem ein paar Minuten lang kein Wort gefallen war, und verfolgte mit skeptischer Miene, wie ihm seine braunen Locken büschelweise um die Füße fielen und mehr von seinem jungenhaften Gesicht freigelegt wurde, als er gewohnt war. »Der Kapitän, meine ich. Sie sind doch schon öfter mit ihm gefahren, oder?«
    »Ich kenne ihn nicht sehr gut«, sagte Dupuis, der vor langer Zeit schon gelernt hatte, allem Tratsch, den die Seeleute ihm zutrugen, zu lauschen, selbst aber priesterhaftes Schweigen zu bewahren, damit am Ende nichts auf ihn zurückfiel. »Er führt ein strenges Regiment, hält auf Ordnung und Disziplin und gibt alles, um den Fahrplan einzuhalten. Es heißt, er glaubt nicht an Gott, aber er hat die Memoiren von William Bligh im Nachtschrank liegen und liest jeden Abend darin wie in der Bibel. Wenn er auf diesem Stuhl sitzt, hat er kaum fünf Worte für mich übrig.«
    »Kapitän Bligh?«, fragte Carter und hob überrascht eine Braue. »Gute Güte, das fehlt mir gerade noch. Gott sei Dank leben wir mittlerweile im zwanzigsten Jahrhundert, mehr kann ich dazu nicht sagen. Ich bin nicht gerade ein Anhänger der Rum-und-Kielhol-Fraktion unter den Seefahrern. Mach deinen Job und lass dich dafür bezahlen, das ist mein Motto. Nicht mehr, nicht weniger. Kapitän Bligh!«, wiederholte er mit leiser Stimme noch einmal. »Ich fasse es nicht.«
    »Fertig«, sagte der Friseur und trat zurück, um sein Werk zu betrachten. »Was sagen Sie dazu? Schnell und einfach.«
    Carter nickte und stand auf, schob dem Mann ein paar Münzen in die Hand und trat auf den Gang. Er strich sich mit der Hand über den Hinterkopf und staunte darüber, wie uneben sein bis eben noch unter dem dichten Haarputz verborgener Schädel war. Ein kalter Luftzug fuhr ihm in den ungewohnt kurzen Schopf. »Gott steh uns bei«, murmelte er leise, sah sich um und begriff, dass er sich während der nächsten vierundzwanzig Stunden ernsthaft mit den Decksplänen des Schiffes auseinandersetzen musste. Das Letzte, was er brauchen konnte, war, dass er sich auf der
Montrose
verlief. Sie war ähnlich konstruiert wie die
Zealous
und die
Ontario,
ihre Schwesterschiffe, auf denen er bereits gefahren war, aber etwas moderner, und etliche der Merkwürdigkeiten im Aufbau der beiden waren beim Bau der
Montrose
ausgebügelt worden. Auch technisch war sie moderner. Sie hatte als erstes Schiff der Flotte einen Marconi-Telegrafen an Bord, mit dem sich auch auf hoher See Nachrichten mit dem Festland austauschen ließen.
    Gewöhnlich fand er mit geschlossenen Augen zurück nach oben, einfach nach dem Geruch und der Bewegung des Schiffes. Über die Jahre hatten sich seine Sinne so sehr verfeinert, dass sein Gehirn zu einem selbstständigen Navigator geworden war, doch etwas an diesem Schiff ließ ihn stocken. Das schimmernde Holz überall stand im Kontrast zu den dunklen Gängen, und das Knarzen des Schiffes schien seine Sinne derart zu betäuben, dass er seinen eigenen Fähigkeiten nicht mehr traute. Als er durchs Erste-Klasse-Deck kam, sah er endlich ein Stück entfernt einen Aufgang, und das Licht, das hindurchfiel, wies ihm den Weg zurück aufs Hauptdeck. Ihm entgegen kam ein Endvierziger und direkt dahinter folgte ein jüngerer Mann, fast noch ein Junge. Gleich erinnerte er sich daran, dass er seine Mütze nicht aufhatte oder ordentlich unter dem Arm mit sich trug, wie Kendall es ihm gesagt hatte, und er biss sich auf die Lippe. Carter beschloss, schnurstracks zu seiner Kabine zu marschieren und sie zu holen.
    »Guten Tag, die Herren«, sagte er und blieb stehen, um die beiden Passagiere zu begrüßen. Der Ältere wirkte leicht verärgert darüber, dass er angesprochen wurde. »Bereit für die Reise?«
    »Ja, danke«, sagte Mr Robinson und sah zu der nur ein paar Meter entfernt liegenden Tür von Kabine A 4 hinüber, einem heiligen Gral, der offenbar nicht zu erreichen war, ohne vorher mit der halben Christenheit kommuniziert zu haben.
    »Billy Carter, Erster Offizier der
Montrose«
, sagte Carter mit einem Kopfnicken und fuhr in angenehmem Ton fort: »Sollten Sie irgendwelche Probleme an Bord haben, wenden Sie sich an mich oder einen meiner

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