Der freundliche Mr Crippen | Roman
entscheiden.«
»Aber mein lieber Inspector, ich habe alles gestanden. Ich gestehe meine Schuld ein, und ich versichere Ihnen, dass Ethel LeNeve nichts von dem wusste, was ich getan habe. Ihr einziges Verbrechen besteht darin, sich in mich verliebt zu haben.«
Dew zuckte mit den Schultern. »Ich kann wie gesagt nicht entscheiden, ob sie schuldig oder unschuldig ist. Das ist Sache des Richters und der Geschworenen. Sie können es mir gegenüber wieder und wieder beteuern, aber ich bin nicht der, den Sie überzeugen müssen.«
Was Walter Dew anging, so war er sich nicht wirklich sicher, dass das, was Hawley ihm sagte, die ganze Wahrheit war. Er hatte Ethel LeNeve mehrfach in ihrer Kabine verhört, sich aber noch kein klares Bild machen können. Wenn sie schwor, Hawley über alles zu lieben, schien sie die Wahrheit zu sagen, das war offenbar ihre alles bestimmende Motivation. Was den Mord an Cora Crippen betraf, wies sie alle Schuld von sich. Dass Hawley längst alles auf sich genommen hatte, wusste sie nicht.
»Miss LeNeve bestätigt Ihre Geschichte«, sagte Dew. »Sie sagt, sie sei unschuldig.«
»Na, sehen Sie«, sagte Hawley erleichtert.
»Wenn es nicht so wäre, nun, dann könnte es noch eine Chance für Sie geben. Dann könnte das Ganze als ein Verbrechen aus Leidenschaft gesehen werden. Wenn Sie von jemand anderem dazu angetrieben worden wären …«
»Inspector, Sie verschwenden Ihre Zeit. Ich werde keinesfalls erlauben, dass Ethel die Schuld gegeben wird, falls es das ist, wozu Sie mich drängen wollen. Sie ist die einzige Frau, die mich je wirklich geliebt hat, verstehen Sie? Sie hat mich gerettet und hätte alles für mich geopfert. Wie könnte ich jetzt dazu beitragen, dass sie getötet wird?«
»Was geopfert, Dr. Crippen?«, fragte Dew und beugte sich vor. »Was hat sie tatsächlich für Sie geopfert?«
»Ihr Zuhause, ihr Leben, England. Sie war bereit, alles hinter sich zu lassen und mit mir davonzulaufen, auch wenn sie deswegen als sündhaft und liederlich gebrandmarkt würde, denn sie wusste ja nicht, dass Cora tot war. Wenn Sie denken, dass ich mich jetzt gegen sie wende, irren Sie sich gewaltig.«
Dew seufzte. Er wusste nicht, was er glauben sollte, und war froh, dass seine Verantwortung – abgesehen davon, dass er seine Aussage machen musste – damit endete, wenn er seinen Gefangenen dem Gericht übergab. »Was für ein Mensch war sie eigentlich?«, fragte er schließlich noch, bereits im Aufstehen. »Ihre verstorbene Frau, meine ich. Was für eine Art Mensch war sie?«
»Sie war ein Teufel«, antwortete Hawley nach einigem Nachdenken. »Ganz gleich, was mit mir geschieht: Die Welt ist ohne sie ein besserer Ort.«
»Kein Bedauern also?«
»Nein.«
Das, dachte Walter Dew, könnte sich alles bald ändern.
Mrs Louise Smythson und Mrs Margaret Nash saßen am Nachmittag des 25 . Oktober 1910 zusammen mit ihren Ehemännern in der ersten Reihe der Zuschauergalerie, als das Urteil verkündet wurde. Das Gericht war bis zum Rand mit Juristen und Verteidigern, Journalisten gefüllt und mit so vielen Zuschauern, wie nur hineinpassen wollten. Selbst auf der Straße draußen drängten sich die Leute und warteten aufgeregt auf die Entscheidung. Die Smythsons und die Nashs hatten ihre Plätze in der ersten Reihe wegen ihres Anteils an der Ergreifung des Mörders bekommen. Mrs Louise Smythson selbst war zu einer gewissen Bekanntheit gekommen und von mehreren Zeitungen interviewt worden, die ihr Foto prominent auf der ersten Seite abdruckten. Es ging sogar das Gerücht von einer möglichen Belobigung durch den Polizeipräsidenten, wobei es das erste Mal wäre, dass ein Mitglied der Öffentlichkeit eine solche Ehrung erfahren würde, und dazu noch eine Frau.
»Nicholas, habe ich diese Woche etwas über deinen Bruder in der Zeitung gelesen?«, fragte Margaret Nash und sah zu Louises Mann hinüber. »Ich bin sicher, das habe ich.«
Nicholas nickte und musste lächeln. »Das hast du in der Tat, Margaret«, sagte er. »Und mit was für einer Schlagzeile: ›Lord Smythson erklimmt das Matterhorn!‹ Ich hätte niemals gedacht, so etwas mal in der Zeitung lesen zu können.«
»Ich auch nicht«, sagte Louise bitter. Aus dem schlechten Gesundheitszustand ihres Schwagers Martin, der sie so lange mit Hoffnung erfüllt hatte, war eine anhaltende Enttäuschung geworden. Vor ein paar Tagen hatte Martins Frau Elizabeth einen Sohn geboren, aber schon zuvor, von dem Moment an, da sie ihrem Mann gesagt
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