Der freundliche Mr Crippen | Roman
Inspector, wie schön, dass Sie mich besuchen«, sagte Hawley. Er freute sich, ihn zu sehen, hatte er doch den Großteil der Zeit allein in seiner Kabine zugebracht und dürstete geradezu nach Unterhaltung. »Wir essen also heute zusammen, wie ich sehe«, fügte er gleich noch hinzu, weil auf dem Tablett zwei Teller standen.
»Zum zweiten Mal«, sagte Dew in Erinnerung ihres gemeinsamen Essens an jenem Nachmittag in London.
»Ja«, sagte Hawley, blickte leicht enttäuscht auf seinen nur dürftig gefüllten Teller und spürte den tadelnden Unterton in der Stimme des anderen Mannes. »Ich muss gestehen, dass ich bei der Gelegenheit nicht ganz aufrichtig mit Ihnen war. Dafür sollte ich mich entschuldigen.«
»Nun, Sie haben mir nicht gesagt, dass Sie Ihre Frau zerstückelt und in Ihrem Keller begraben hatten, wenn Sie das meinen«, sagte Dew. »Wobei ich zugeben muss, dass Sie mich komplett an der Nase herumgeführt haben.«
»Habe ich das? Dafür scheine ich ein Talent zu haben.«
»Was mich erstaunt, und in Bezug auf meine Fähigkeiten enttäuscht, ist der Umstand, dass ich Sie bereits bei einer Lüge ertappt hatte, als Sie sagten, Ihre Frau sei nach Amerika gefahren, um sich um einen kranken Verwandten zu kümmern, dann aber auf Ihre Nachfolge-Lüge hereingefallen bin. Das lässt mich ziemlich töricht aussehen. Und so fühle ich mich auch.«
»Ich würde mir deswegen keine Gedanken machen, Inspector«, sagte er. »Schließlich bin ich nach allem, was ich höre, so etwas wie ein kriminelles Superhirn. Wie hätte mich da einer durchschauen sollen?« Hawley war während der letzten Woche zwar in seiner Kabine eingesperrt gewesen, hatte durch einige Besatzungsmitglieder aber mitbekommen, was unter den Passagieren geredet wurde und an Berichten über ihn in den Zeitungen stand. Alles in allem betrachtete er das mit einer ausgesprochen düsteren Art von Humor.
»Wirklich?«, sagte Dew. »Sehen Sie sich selbst auch so?«
Hawley lächelte. Er wollte die Sache nicht noch schlimmer machen, als sie sowieso schon war.
Sie aßen eine Weile schweigend, bevor sich der Inspector an den Grund für sein Kommen erinnerte.
»Wenn wir in Liverpool ankommen«, sagte er, »wird, wie ich annehme, eine ansehnliche Menschenmenge auf uns warten. Werden Sie deswegen nicht nervös. Ich habe ausreichend Verstärkung bestellt, um die Leute zurückzuhalten und Sie zu beschützen.«
»Bin ich tatsächlich so sehr in Gefahr?«, fragte Hawley und schien fast amüsiert.
»Nicht, wenn wir Sie beschützen. Aber die Gemüter sind erregt, das müssen Sie verstehen. Was Sie getan haben, scheint die Fantasie der Öffentlichkeit überschäumen zu lassen.«
»Werde ich verachtet?«
»Gefürchtet. Verachtet. Missverstanden.«
Hawley nickte. Der Inspector schien Mitgefühl mit ihm zu haben. Warum sonst sollte er »missverstanden« sagen?
»Wir bringen Sie direkt mit dem Zug nach London, wo Sie auf Kosten seiner Majestät untergebracht werden und Ihren Prozess erwarten.«
»Wann wird der stattfinden?«
»Sehr bald, denke ich. Vermutlich im Oktober.«
»Gut«, sagte Hawley. »Je eher wir die Sache hinter uns gebracht haben, desto besser.«
Dew sah ihn verblüfft an. »Aber, Dr. Crippen«, sagte er, »Ihnen ist doch klar, dass das Ergebnis offensichtlich ist? Die Beweislast gegen Sie ist überwältigend. Ganz zu schweigen davon, dass Sie Ihre Schuld zugegeben haben. Es besteht praktisch keine Chance, dass Sie von der Anklage freigesprochen werden.«
»Natürlich ist mir das klar.«
»Auch, dass Sie der Strick des Henkers erwartet?«
»Das wird eine süße Erleichterung.«
Von dem Augenblick an, da er von Inspector Dew in Kapitän Kendalls Kabine verhaftet worden war, hatte sich Hawley damit abgefunden, schon bald zu sterben. Wenn er den Mord auch nicht begangen hatte, so hatte er doch seinen Anteil daran. Er war entschlossen, die alleinige Verantwortung an Coras Tod zu übernehmen und Ethel LeNeves Unschuld und damit ihr Leben zu bewahren.
»Was ist mit Ethel?«, fragte er, wobei er versuchte, seine Sorge in Bezug auf sie zu verbergen. »Sie wird doch sicher freigelassen werden?«
»Ganz sicher nicht«, antwortete Dew. »Sie wird sich ebenfalls verantworten müssen, aber in einem eigenen Prozess.«
»Ist das so?«, fragte er und legte seine Gabel ab. »Aber warum? Sie hat nichts Unrechtes getan, das habe ich Ihnen schon mehrfach versichert. Sie hat nichts gewusst.«
»Das behaupten Sie beide. Trotzdem hat das Gericht darüber zu
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