Der freundliche Mr Crippen | Roman
niemand.«
»Vielleicht«, sagte Mr Robinson mit zweifelnder Stimme.
Während Mrs Drake Kabine A 7 bezog und versuchte, so viele Dinge wie nur möglich zu finden, an denen sich etwas aussetzen ließ, saß gut zehn Meter unter ihr in Kabine B 7 Miss Martha Hayes auf dem Rand ihrer schmalen Koje und nahm alle Kraft zusammen, um nicht in Tränen auszubrechen. Martha war neunundzwanzig, sah aber aus wie knapp vierzig. In ihrem Haar zeigten sich die ersten grauen Strähnen, und ihre Haut wurde allmählich spröde. Trotz allem konnte man sie als hübsche Frau bezeichnen. Sie befand sich jetzt seit fast einer Stunde an Bord und hatte die Zeit damit zugebracht, recht gut gelaunt ihre Kleider und Besitztümer in der kleinen Kabine unterzubringen. Das war nun jedoch geschafft, und sie hatte nichts mehr, um sich zu beschäftigen. Sie reiste allein und hatte noch keine Bekanntschaften gemacht. In Antwerpen hatte sie überlegt, ob sie nicht einfach ein Dutzend Romane kaufen und sich die Reise über in ihrer Kabine einschließen sollte, sich am Ende aber gegen diese menschenfeindliche Idee entschieden und sich mit drei Büchern und einem neuen Sonnenhut begnügt, der sie ermutigen sollte, sich auch an Deck aufzuhalten. Martha holte eine goldene Uhr aus der Tasche, öffnete sie und sah in das Gesicht von Léon Brillt, einem belgischen Lehrer, mit dem sie fast achtzehn Monate liiert gewesen war. Sie starrte in sein dunkles Gesicht und seine karamellfarbenen Augen und biss sich auf die Lippe. Dann schloss sie den Deckel wieder, stand auf und schüttelte sich heftig.
»Ein neuer Anfang, Martha«, sagte sie laut. »Schluss mit diesem Unsinn.«
In genau diesem Moment fuhren Martha Hayes, Mrs Antoinette Drake, ihre Tochter Victoria, Mr John Robinson, der junge Edmund Robinson und die eintausenddreihundertdreiundzwanzig übrigen Passagiere der
Montrose
zusammen, als das würdevolle Schiffshorn über ihnen ein langes, tiefes Schnauben ertönen ließ und die Stimmen der Besatzung in einem einzigen himmlischen Chor riefen:
»Alles an Bord! Alles an Bord!«
Die
Montrose
war reisefertig.
Henry Kendalls Liebe zur See reichte zurück bis in seine Kindheit, als sein Vater Arthur ihm Geschichten vom Leben an Bord eines Schiffes vorgelesen hatte, aus der kleinen Büchersammlung auf dem Kaminsims. Vater und Sohn hatten eine gemeinsame Lieblingsgeschichte, die von Admiral Bligh und seinen Abenteuern an Bord der HMS
Bounty,
allerdings aus sehr unterschiedlichen Gründen. Arthur hasste Sadismus und aufgeblasenes Machtgehabe und war auf der Seite von Fletcher Christian und den Meuterern. Für Henry dagegen erwachte die Geschichte erst in dem Moment wirklich zum Leben, als Bligh das kleine Boot bestieg und mit Hilfe eines Kompasses und der Sterne übers Meer navigierte; alles davor war nur der Prolog. Henry verabscheute die Meuterer und ihre unverfrorene Missachtung der Autoritätsregeln auf See. Für ihn hätte der ideale Schluss der Geschichte darin bestanden, Fletcher Christian hängen zu sehen, statt ihn für den Rest seines Lebens als freien Mann auf den Inseln der Südsee zu wissen.
Im Alter von fünfzehn Jahren ging Henry zur Marine. Er blieb Junggeselle, widmete sein Leben vollständig dem Meer und diente sich langsam, aber stetig durch die Offiziersränge der Navy nach oben. Zu seiner großen Enttäuschung blieb ihm jedoch ein eigenes Kommando versagt. Im Alter von zweiundvierzig erfuhr er, dass eine unabhängige Reederei, die Canadian Pacific Company, unter erfahrenen Ersten Offizieren nach Kapitänen für ihre neue Flotte von sechs Transatlantikschiffen suchte. Selbst erstaunt über seine Bereitwilligkeit, die Navy Ihrer Majestät zu verlassen, bewarb er sich für eines der Kommandos. Seine Erfahrung und Verlässlichkeit kamen ihm bei den Einstellungsgesprächen zugute, und er wurde der Kapitän der
Perseverance,
mit der er drei Monate später schon regelmäßige Fahrten zwischen Calais und New York unternahm. Nun war er fünfzig Jahre alt, Kapitän des Passagierdampfers SS
Montrose
und fuhr zwischen Antwerpen und Quebec hin und her. Es war Mittwoch, der 20 . Juli 1910 , und er sah sich im Spiegel seiner Kabine an und fragte sich traurig, was aus der Welt der Seefahrt geworden war.
Wie gewohnt war er zwei Stunden vor Auslaufen an Bord gekommen, um in Ruhe die Karten zu studieren und entsprechend der zu erwartenden Winde die genaue Reiseroute festzulegen. Ein junger Mann Ende zwanzig hatte ihn begrüßt und sich gut
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