Der Fruehling des Commissario Ricciardi
Müttern die Leichen zurückzubringen, hatten aber nichts gefunden.
Nun erkannte Ricciardi nicht weit von ihm entfernt, doch in entgegengesetzter Richtung zu den schwarz gekleideten Frauen, die mit ihren Netzen beschäftigt waren, die drei toten Fischer, deren Seelen die rücklaufendeBrandung zurückgegeben hatte. Zwei waren schon älter, einer gerade erst dem Kindesalter entwachsen. Die Kleider hingen in Fetzen an ihnen herab, ihr Fleisch hatten die Fische gefressen, es zeichneten sich die Brüche und Prellungen ab, die das tobende Meer ihnen zugefügt hatte, als es ihre Körper gegen die Bootsplanken schleuderte, bevor sie in der Tiefe der Fluten versanken. Ricciardi nahm ihre Gedanken sehr deutlich wahr: Einer verfluchte mit tiefer und heiserer Stimme die Heiligen, der andere empfahl sich der Muttergottes. Der Junge, dessen Lippen und Zunge durch das Ersticken geschwollen waren, rief kläglich nach seiner Mutter.
Nichts Neues, dachte Ricciardi. Vom Schmerz der Toten und der Arbeit der Lebenden umgeben, nahm er sich vor, sich durch seine Stimmungen nicht von den Ermittlungen im Mordfall Calise abhalten zu lassen. Die Besonnenheit, die er brauchte, um die ihm bekannten Anhaltspunkte zu untersuchen, durfte ihm nicht verlorengehen, bloß weil er an die geschlossenen Fensterläden von gegenüber dachte. Er musste die Prioritäten wieder richtig setzen: Die Gestalt der zu Tode geprügelten Alten verlangte nach Gerechtigkeit, indem sie in ihrer Wohnung unaufhörlich ein altes Sprichwort wiederholte.
Ricciardi betrachtete die Erscheinung des toten Jungen. Mama, wo bist du, Mama, halt mich fest, Mama , waren die Worte, die seine blauen Lippen formten. Für dich kann ich leider nichts tun, dachte er. Aber vielleicht konnte er wenigstens Carmela Calise ein klein wenig Gerechtigkeit widerfahren lassen.
Ohne besonderen Grund fielen ihm die zwei Iodice-Frauen ein.
In ihre Niedergeschlagenheit mischten sich Sorge und Zorn. Sie hatte den ganzen Abend lang gewartet. So lange, dass sie schließlich den Kopf auf ihren Arm gelegt hatte und an dem für zwei Personen gedeckten Tisch eingeschlafen war. Das Zuklappen eines Fensterladens in einem der Nachbarhäuser hatte sie geweckt. Sie hatte auf die Uhr im Zimmer geschaut: Es war elf.
Früher, vor sehr langer Zeit, hätte Raffaele sie benachrichtigt, wenn er sich zum Essen verspätete. Er hätte sich etwas einfallen lassen, hätte einen Kollegen oder Jungen zu ihr geschickt, den Buchhalter im ersten Stock angerufen, der sein riesiges Telefon in der Mitte des Wohnzimmertisches stolz zur Schau stellte. Und jetzt? Erst in diesem Moment fiel ihr auf, dass er ihr seit über einem Jahr nicht mehr Bescheid sagte, wenn es später wurde.
Sie hatte Geschirr und Essen weggeräumt, sich ausgezogen und ins Bett gelegt; er sollte nicht merken, dass sie gewartet hatte. Kurze Zeit später – es war vielleicht eine Viertelstunde verstrichen – hatte sie gehört, wie der Schlüssel sich im Schloss drehte. Während sie sich schlafend stellte, hatte sie aufmerksam den unbeholfenen Bewegungen ihres Mannes im Dunkeln gelauscht. Er war nicht in die Küche gegangen, wie er es sonst tat, wenn die Arbeit ihn zwang, spät und hungrig zurückzukehren; er hatte sich leise ausgezogen, sich ins Bett gelegt und sich dabei bemüht, die Matratze nicht übermäßig in Bewegung zu versetzen. Nach einer Minute schon schnarchte er glücklich und zufrieden.
Lucia rückte näher an ihn heran, um ihn zu beschnuppern. Er roch nach Essen, hatte also eine Mahlzeit eingenommen. Doch wo? Sie nahm auch einen anderen, leicht urwüchsigen Geruch wahr. Eine Frau?
Lucia drehte sich um und in ihrem Herzen begann ein Sturm zu toben. Hätte sie nur den Duft einer Frau gerochen, hätte sie es vielleicht noch verstanden. Ein Mann hat seine Bedürfnisse und sie war seit Jahren unerreichbar.
Aber im Haus einer anderen zu essen ging zu weit. Das war eindeutig Verrat.
Ruggero Serra di Arpaja öffnete das Fenster seines Arbeitszimmers, um den Sonntag hereinzulassen. Zum ersten Mal seit Tagen war es ihm gelungen, ein paar Stunden zu schlafen, und er fühlte sich besser.
Emmas Vorladung hatte ihn nicht wenig überrascht: Er war überzeugt gewesen, dass die zwei Polizisten gekommen waren, um ihn zu holen und ins Verderben zu stürzen, ihn einer Schande preiszugeben, von der er sich nie wieder erholen würde, ganz egal, wie die Sache am Ende ausgegangen wäre. Stattdessen war er immer noch frei und konnte sich verteidigen.
Die
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