Der Fruehling des Commissario Ricciardi
kniffliger Fälle ging, gleichzeitig der undiplomatischste von allen. Wie oft hatte er in den letzten drei Jahren herausragende Persönlichkeiten der Stadt beschwichtigen müssen, denen der eigensinnige Kommissar auf die Zehen getreten war. Aber noch häufiger hatte er von seinen außergewöhnlichen Erfolgen profitiert. Alles in allem waren sie wie füreinander geschaffen: Den Kommissar schienen nur die Ermittlungen, dasVerbrechen und dessen Aufklärung zu interessieren, ihm dagegen lagen Anerkennung, Auszeichnungen und die Wertschätzung der Vorgesetzten am Herzen, und je weniger er im Dreck wühlen musste, desto besser.
Wenn bloß Ricciardi ihn nicht so sehr verunsichern würde ... Es gelang ihm nicht, seine Persönlichkeit richtig einzuordnen – da waren sein Schweigen, sein zweideutiges Grinsen, stets hatte er die Hände in den Taschen, sogar, wenn er vor ihm stand, und vor allem sein undurchdringlicher Blick.
Allerdings war er tüchtig, das musste man ihm zugestehen: Die Aufklärung des Mordes an Vezzi, dem im Theater San Carlo tot aufgefundenen Tenor, hatte Garzo sogar einen persönlichen Anruf aus Rom eingebracht. Beim Gedanken daran zitterte er noch immer; dreimal war er weiterverbunden worden, hatte sein »zu Ihren Diensten, Exzellenz« aufgesagt und sich, während er darauf wartete, über Mitarbeiter der Telefonzentrale und Sekretäre schließlich zu IHM zu gelangen, hastig gekämmt und in Positur gesetzt, als ob man ihn durchs Telefon hindurch sehen könnte. Sein Name auf dem Tisch des Duce: Der Traum begann, Wirklichkeit zu werden.
Gerade deshalb war Umsicht vonnöten: Ricciardi sollte ruhig seiner Intuition folgen, doch ohne die schlafenden Löwen der besseren Viertel zu wecken, der Viertel direkt am Meer.
XLII
Der erste Sonntag im Frühling ist anders. Wie alle übrigen Sonntage beginnt er mit Glockenläuten, und wie sonst auch ist es am frühen Morgen still; doch er hält ganz neue, ungewohnte Versprechen bereit, die er schon bald erfüllt.
Er riecht anders und erzählt es den wenigen, die bei Sonnenaufgang erwachen und sich auf den Balkonen der oberen Stockwerke zeigen. Man sieht sie dann wie Hunde die Luft beschnuppern und grundlos lächeln.
Er schmeckt anders, ähnlich wie frisch gemolkene Milch. Der Bursche, der sie auf der Straße verkauft hat, mag derselbe sein wie am Tag zuvor, doch die Milch ist so frisch, dass die Kehle frohlockt.
Vor allem aber klingt er anders: wie ein heidnisches Fest mit all seinen Riten und Liedern. Die Tauben gurren auf den Dachrinnen, noch bevor die Sonne sich blicken lässt. Und später hört man die Waschfrauen auf ihrem Weg zum Brunnen singen, die Rufe der fliegenden Händler, die von den nahe gelegenen Feldern kommen. Ihre Waren sind typisch für die Jahreszeit: Veilchen, Weizenkörner für den Osterkuchen, junge Raute und würzige Kräuter. Sogar die Hühner gackern energischer.
Mit fast einem Monat Verspätung war dies nun der erste richtige Frühlingssonntag.
An jenem Morgen beschloss Ricciardi, dem Meer einen Besuch abzustatten. Das tat er gelegentlich, wenn ihm mitten in einer Ermittlung unversehens ein Sonntag dazwischenkam.
Obwohl er aus den Bergen stammte, hielt er sich gernam Wasser auf, um sich zu sammeln und ein wenig zur Ruhe zu kommen.
Er hatte nicht viel geschlafen, ein paar Stunden höchstens, und musste unbedingt seine Gedanken ordnen.
Zum Nachdenken schlenderte er zu einem kleinen abgelegenen Strand am Fuße des Posilippo-Hügels. Nicht weit von ihm entfernt besserten die Frauen der Fischer Netze aus. Aus der Ferne blickten sie ihn neugierig an, doch seine ungewöhnliche Kleidung schützte ihn vor Fragen und niemand störte ihn. Auf einer kleinen Klippe wartete er still und ruhig darauf, dass Wind aufkommen würde. Kein Spritzer, nichts, nur das regelmäßige Rauschen des grünen Wassers einen Meter tiefer.
Vor einem Monat hatte der Winter beschlossen, wie ein Heer, das sich im Rückzug befand, eine letzte verzweifelte Offensive zu starten. Ein heftiges Unwetter hatte die Küsten zwei Tage lang ununterbrochen heimgesucht und die an den Strand angrenzenden Straßen überschwemmt. Die meisten Menschen hatten in ihren Häusern Schutz vor dem Sturm gesucht.
Hunger und Not hatten jedoch ein kleines Fischerboot dazu veranlasst, eine letzte Ausfahrt zu wagen. Die Leute hatten gehofft, rechtzeitig wieder zurück zu sein. Sie hatten es nicht geschafft. Als der Himmel aufgeklart hatte, waren viele andere Boote losgezogen, um den Frauen und
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